Schatten

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Keyword: Schatten

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Definition: Der Schatten ist ein bildhafter Begriff, den C. G. Jung für alle jene dunklen Seiten und ungelebten Anteile in Menschen geprägt hat, die sie zwar haben, aber nicht kennen, die ihnen unbewusst sind oder die sie nicht wahrhaben wollen.

Information: In einem engeren Sinne bezeichnet der Schatten alle Eigenschaften, Fähigkeiten, Gefühle, Gedanken, Fantasien und Handlungen, die von der jeweiligen Gesellschaft als negativ und sogar destruktiv angesehen werden, wie z. B. Intoleranz, Gewalttätigkeit, Rassismus, Egoismus, Hass, Eifersucht, Rachsucht, Neid, Habgier, Geiz oder Hochmut.

In einem weiteren Sinne bezieht er sich auch auf die verschiedensten unbewussten Aspekte der Persönlichkeit, die nicht an sich böse oder schlecht sind, sondern die der Einzelne im Laufe seiner Erziehung und Entwicklung als nicht zu sich gehörig anzusehen gelernt hat.

Wenn C. G. Jung einmal sagte, dass der Schatten zu 90% aus reinem Gold bestünde, dann meinte er zum einen damit, dass wir mit der dauernden Abwehr unseres Schattens einen Großteil unserer seelischen Energie verbrauchen, die wir für unsere Kreativität und Lebendigkeit viel besser verwenden könnten und zum anderen, dass wir auch sehr viele Seiten in den Schattenbereich verdrängt haben, die kostbar und positiv sind, die uns aber in unserer Kindheit als schlecht, ungehörig, unverschämt und sündig dargestellt und mit negativen Aussagen verbunden wurden. Dazu gehören beispielsweise Neugier und Kreativität, ("Sei doch nicht so neugierg!", "Du mit Deinen verrückten Einfällen"), Eigenständigkeit ("Du Dickkopf"), Selbstbehauptung ("Sei doch nicht so egoistisch"), Spontanität ("Kannst Du dich nicht beherrschen?"), Phantasie ("Sei doch nicht so ein Träumer!") oder Sexualität ("Männer denken doch immer nur an das Eine!").

Unser Schatten steht dabei in einem direkten Verhältnis zur Persona und unseren Ideal-Vorstellungen: Je mehr wir versuchen, uns einseitig nach gesellschaftlichen oder religiösen Vollkommenheitsmaßstäben zu orientieren, desto dunkler und bedrohlicher kann unser Schatten sein. Menschen, welche stark mit festgelegten Rollen und Formen und einer fassadenhaften Persona identifiziert sind, die wenig von ihrer wirklichen Persönlichkeit und ihrer menschlichen Ganzheit zum Ausdruck kommen lassen, müssen häufig in ganz besonderem Maße die vielen anderen, zur Rolle nicht passenden Seiten in ihr Unbewusstes, in den "Schattenbereich" drängen und ängstlich darauf bedacht sein, sie nicht zum Vorschein kommen zu lassen.

Aus dieser starken Angst vor unseren Schattenseiten kann sich ein unheilvolles psychodynamisches Geschehen aufschaukeln. Gerade durch die "Verteufelung" können uns normale, allgemeinmenschliche und harmlose Seiten unserer Persönlichkeit wie blutrünstige Monster erscheinen. Und je mehr wir ein solches blutrünstiges Monster in uns lauern spüren, desto größer wird unsere Anspannung und unsere Angst. Wir haben Angst vor unseren eigenen Untiefen, und wir haben Angst, dass uns andere Menschen entlarven könnten, dass sie diese Monster in uns entdecken könnten. Diese dauernde Angst vor Entlarvung, davor, dass jemand unsere andere, vermeintlich teuflische Seite sehen könnte, macht uns misstrauisch, und wir bemühen uns, eine umso stabilere, "scheinheilige" Fassade aufrechtzuerhalten, welche wiederum unsere Schattenseiten wachsen läßt.

"Ich kann niemanden lieben, wenn ich mich selbst hasse. Das ist der Grund, weshalb man sich so ausgesprochen unwohl fühlt in der Gegenwart von Menschen, die durch besondere Tugenhaftigkeit ausgezeichnet sind, weil sie nämlich eine Atmosphäre der Qual ausstrahlen, die sie sich selber antun." (Jung, zit. nach Jacobi, 1970, S. 242)

Das "Böse in uns" ist oft gar nicht das, was wir an negativen Seiten verteufeln, sondern es ist die Gewalttätigkeit, mit der wir uns selbst demütigen, quälen und verletzen, indem wir diese Seiten in uns abwerten und uns dafür verachten und bestrafen. Schließlich wendet er sich gegen uns und fällt uns "von hinten her" an. Weite Bereiche der eigenen Persönlichkeit werden dann, weil sie nicht als dazugehörend akzeptiert werden, zum inneren oder, projiziert, zum äußeren Feind, der bis aufs Äußerste bekämpft werden muss.

Das klassische märchenhafte und literarische Motiv hierfür ist die nächtliche Verwandlung eines tagsüber ganz normal wirkenden Menschen in ein fremdes Wesen, ein bedrohliches Tier oder ein Ungeheuer. Denken wir an die vielen Geschichten von schattenhaften Doppelgängern, Persönlichkeitsspaltungen (Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Faust und Mephisto), vom Werwolf oder dem blutgierigen, halbtoten Dracula.

Interpretation: Auf der Ebene des Imaginations- und Traumbewusstseins erscheint der eigene Schatten in all jenen Gestalten, die einerseits Ausdruck des Schlechten, Minderwertigen und Abzulehnenden (z. B. Diebe, Betrüger, Mörder, Terroristen) und andererseits Symbolgestalt des nicht gelebten Lebens. Deshalb symbolisiert sich der Schatten nicht als einheitliche Figur, sondern ist ebenso variabel wie die bewusste Persönlichkeit. Menschen, die auf Grund von Ängsten, Selbstwertproblemen und Hemmungen weit unter ihrem Lebenspotenzial leben, erscheint der Traumschatten häufig kompensatorisch in heldenhaft-überhöhter, aber durchaus auch positiver, helfender Form, als hilfreiches Tier, als unbekannter Mann oder Frau, größerer Bruder oder Schwester, Freund oder Freundin, bewunderter Kollege, Film- oder Romangestalt. Ein Patient mit einer entsprechenden Problematik träumte:

"Es regnet, und ich liege in einem Dreckloch. Ich kämpfe mit einem etwa einen Meter langen Fisch (ähnlich einem Wels mit wulstigen Lippen), der mich angreift und nach mir schnappt. Daneben steht ein junger Mann mit einer Pistole. Ich bitte ihn um Hilfe, worauf er dem Fisch einen Kopfschuss gibt. Das Blut spritzt heraus, und es wird alles rot."

Der Träumer wird in seiner bedrohlichen Situation von einem anderen jungen Mann gerettet, der im Besitze einer vermutlich nötigen, aber auch recht gewalttätigen phallischaggressiven Potenz (Pistole) ist. Auf Grund seiner Unsicherheit und Angst erlebt der Klient die Anforderungen des Lebens und mancher Frauen als übermäßig bedrohlich und fressend (im Symbol des großen Fisches). Er muss im Verlauf seiner weiteren Entwicklung seinen bisher ungelebten Schattenanteil in sich selbst wahrnehmen und einen Teil seiner Aggressivität konstruktiv verwirklichen, damit er seinen Angstkomplex und seine Depression (Situation im Dreckloch) zu überwinden vermag.

Von dem mehr persönlichen Schatten, dessen Integration eine der wesentlichen Aufgaben der Individuation darstellt, unterscheidet die Analytische Psychologie den archetypischen, kollektiven Schatten, die im Menschen und der Gesellschaft prinzipiell vorhandene Möglichkeit des Bösen, die Fähigkeit zum Bösen, das absolut-Böse. Von den Archetypen können sowohl sinngebende, weiterführende und ordnende, aber auch dämonische, destruktive und tötende Impulse ausgehen. Seit jeher erscheinen diese zerstörerischen Energien der archetypischen seelischen Tiefenschicht ebenso in Bildern, Träumen und Fantasien wie die positiven Energien und Bereitschaften. In den Mythen, Religionen und Philosophien, in der Dichtung, Literatur, bildenden Kunst und Musik aller Kulturen und Zeiten sind sie ausgestaltet als Teufel, Hexen, Dämonen, Geister, Drachen, Monster und Ungeheuer, als der ewige mythische Kampf zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel.

Auch aus dem Unbewussten der heutigen Menschen steigen destruktive Energien in archaischen Bildern von Explosionen, Katastrophen, Kriegen, wilden Tieren, Ungeheuern, Mördern, Folterern verschiedener Art auf, häufig auch mit modernen Requisiten ausgestattet, z. B. mit Maschinenpistolen, Handgranaten oder auch Atombomben. Sie können, besonders dann, wenn sie keine Beachtung und Berücksichtigung durch das Ich-Bewusstsein finden, vergiftend und zerstörerisch ins individuelle und ins kollektive Bewusstsein einbrechen. Die modernen Computerspiele, Action- und Horrorfilme, wie auch die immer drastischer werdenden Kriminalfilme müssen unter dieser Perspektive ambivalent gesehen werden: Einerseits geben sie dem aggressiven und destruktiven Potenzial im Menschen Ausdruck und ermöglichen ein gewisses Maß an virtueller Abreaktion, gleichzeitig führen sie auch zu einer gewissen Abstumpfung mit einem wachsenden Bedürfnis nach noch drastischeren Effekten und einer möglicherweise erhöhten Bereitschaft zu real ausgelebter Gewalt.

Insofern ist die Bewusstmachung und verantwortliche Integration dieses schattenhaften Potenzials ein dringendes Erfordernis des Einzelnen wie auch der Gesellschaft.

C. G. Jung schreibt in "Psychologie und Religion": "Wenn man sich jemanden vorstellt, der tapfer genug ist, die Projektionen seiner Illusionen allesamt zurückzuziehen, dann ergibt sich ein Individuum, das sich eines beträchtlichen Schattens bewusst ist. Ein solcher Mensch hat sich neue Probleme und Konflikte aufgeladen. Er ist sich selbst eine ernste Aufgabe geworden, da er jetzt nicht mehr sagen kann, daß die anderen dies oder jenes tun, dass sie im Fehler sind und daß man gegen sie kämpfen muß [...] Solch ein Mensch weiß, daß, was immer in der Welt verkehrt ist, auch in ihm selber ist, und wenn er nur lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig zu werden, dann hat er etwas Wirkliches für die Welt getan. Es ist ihm dann gelungen, wenigstens einen allerkleinsten Teil der ungelösten riesenhaften Fragen unserer Tage zu beantworten.“ Jung, GW 11, S. 91)

Literatur: Standard

Autor: Müller, Lutz