Tierbraut, Tierbräutigam: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:52 Uhr
Keyword: Tierbraut, Tierbräutigam
Links: Anima, Animus, Hochzeit, Schatten, Selbst, Suchen, Tier, Tod, Wandlung
Definition: In vielen Mythen, Märchen und Fantasiegeschichten findet sich das Motiv der Tierbraut oder des Tierbräutigams. Immer ist es dann eine durch eine Hexe oder einen Zauberer in Tiergestalt verwandelter Mensch.
Information: Die Palette der getarnten, verzauberten Tiermenschen ist vielgestaltig: Adler, Ente, Kuckuck, Rabe, Schwan, Taube, Bär, Drache, Frosch, Igel, Löwe, Ratte, Reh, Ross, Schlange, Stier usw. Zum Heiratsversprechen kommt es oft durch den Vater des menschlichen Wesens an das meist hässlich oder abstoßend aussehende Tier. Zu diesem entwickelt sich dann Liebe und Begehren. Häufig trägt der Bräutigam tagsüber eine Tierhaut, die er aber nachts abstreift, wenn er mit seiner Geliebten zusammen ist. Vor dem ersten Morgenlicht muss er sie wieder überstreifen. Oft besteht ein Verbot, den Geliebten nachts zu sehen oder zu befragen. Das Verfehlen führt unmittelbar zur Trennung und zum Verlust der Beziehung. Auch wenn die Tierhaut von der Frau vernichtet wird, bedeutet dies die abrupte Trennung (Schwanenjungfrauenmotiv: Raub des Tiergewandes). Erst die darauf folgende, lange und leidvolle Suchwanderung der Frau führt schließlich dazu, dass der verzauberte Mann wieder entzaubert werden kann.
Zur Erlösung muss sich die Tiergestalt einer Wandlung unterziehen, die sich häufig mit dem Todesmotiv verbindet, z. B. wird die Tierhaut verbrannt, was jedoch nicht zu früh geschehen darf, da sonst gemäß dem Lohengrinmotiv der Prozess unterbrochen wird und es einer neuen Suchwanderung bedarf. Gelegentlich beendet erst der nach langem Widerstreben geführte erlösende Schwerthieb des / der Geliebten den Zauber.
Interpretation: In den meisten Märchen hat der Tierbräutigam nachts eine menschliche Gestalt. Damit wird ausgedrückt, dass der unbewusste Bereich der Triebe und Emotionen im Lichte des Tagesbewusstseins als nicht menschlich angesehen wird. In der Welt des Nächtlichen und Traumhaften hingegen findet eine Annäherung statt, in der Wert und Sinn der unbewussten Gestalt sichtbar werden. Das Ende der Ehe mit dem Tierprinzen findet in der Regel durch eine Verfehlung der Frau statt, in dem sie gegen eine Forderung verstößt, d. h. gegen das Seh- oder Frageverbot. Aber erst das Durchbrechen des Verbotes und die Auflehnung dagegen ermöglicht höheres Bewusstsein. Das liebende Zusammenleben führt zur Erlösung, reicht aber letztlich nicht dafür aus, um den Kampf gegen die negativen Zaubermächte (Hexe oder Zauberer) zu gewinnen. Sie benötigen nicht nur leidenschaftliches Begehren, sondern auch leidenschaftliches Erkennenwollen. Das Urbild von Anima oder Animus kann nur durch eine bewusste Anstrengung aus seiner Verbindung zum Unbewussten hervorgehoben und so bewusst gemacht werden.
Der Bär z. B. in Schneeweisschen und Rosenrot (KHM Nr. 174) mit seiner Gefährlichkeit resultiert aus seiner Verschmelzung des inneren Tiermenschen mit dem Schatten. Letzterer nimmt ihm die Unschuld der rein natürlichen Kreatur, wie sie dem Tier eignet. Die Beendigung des Zaubers erzwingt die Bewusstwerdung. Der Tierbräutigam symbolisiert verschiedene unbewusst-archaische Aspekte der Persönlichkeit (Teilpersönlichkeit): die instinkthafte Naturseite, den Schatten (Alter Ego, Doppelgänger), Anima / Animus-Aspekte wie auch das Selbst.
Literatur: Standard; Franz, 1986
Autor: Obleser, Horst