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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:51 Uhr
Keyword: Flug
Links: Abgrund, Aufstieg, Ballon, Engel, Eros-Prinzip, Fallen, Flügel, Flugzeug, Himmel, Oben, Luft, Vogel
Definition: Fliegen (mhd. vliegen, ahd. fliogan, urspr. wohl = sich schnell bewegen) bedeutet, sich aus eigener oder mit fremder Kraft über den Boden zu erheben und durch die Luft und den freien Raum zu bewegen.
Information: Der Wunsch zu fliegen gehört zu den ältesten Sehnsüchten der Menschheit. Zugleich ist es dem menschlichen Sein nicht zugedacht, im Fliegen werden die menschlichen Grenzen überschritten. Der griechische Mythos von Dädalos und Ikaros erzählt davon: Der kunstvolle Schmied Dädalos fertigt für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel, um der Gefangenschaft im Labyrinth zu entkommen. In seinem Übermut fliegt Ikaros zu hoch, die Sonne schmilzt das Wachs zwischen den Federn und er stürzt ins Meer.
Erst in der Moderne kommt es zur Entwicklung von Heissluftballons, Luftschiff, später Flugzeugen bis hin zur Raumfahrt, die eine gewisse Erfüllung dieses Traums ermöglichen. Dabei ist immer das Problem, der Erdanziehungskraft etwas entgegenzusetzen, um sich in der Luft halten zu können. Zugleich ist die Rückkehr zur Erde unabdingbar.
Interpretation: Die Faszination von Sportarten wie Drachenfliegen, Segelfliegen, Fallschirmspringen, usw. hat sicher auch mit dieser uralten Sehnsucht, sich von der Erdenschwere zu lösen, die menschlichen Grenzen ekstatisch zu überschreiten, zu tun. Fliegen überwindet Raum und Distanz schnellstmöglichst und ermöglicht ein intensives bis rauschhaftes Körpererleben.
So gilt das Fliegenkönnen, das sich in die Luft erheben von altersher als übermenschliche Fähigkeit, wird im Aberglauben dem Teufel, den Hexen, Zauberern, Schamanen und bei den Germanen der wilden Jagd zugeschrieben. Heilige sollen sich manchmal in Meditation und Versenkung ein Stück über den Boden erhoben haben. In Märchen besitzen manchmal die Helden, Heldinnen diese Fähigkeit. Hinter der Vorstellung von Christi Himmelfahrt steht der Glaube, dass Christus nicht nur Mensch, sondern auch Gott war, damit Himmel und Erde in einzigartiger Weise verbinden und die Erdenschwere transzendieren, überschreiten konnte.
Nicht unbedingt im Widerspruch zu diesen religiösen Formen des "Abhebens" gibt es auch im erotischen Bereich Formen des ekstatischen Sich-Erhebens, beispielsweise beim Hexenflug, bei dem die Hexe auf ihrem Besen reitet (naheliegendes Symbol des Sexualverkehrs). Auch das ansteigende Gefühl im orgiastischen Erleben ist mit dem Fliegen vergleichbar und in manchen Flug-Träumen werden intensive Lustgefühle erlebt, die in einem Orgasmus enden können. Auch unter Drogeneinfluss kann es zu einem solchen Erleben kommen ("High"-Sein).
In der Poesie wird oft beschrieben, wie die Seele sich sich über die Beschränkungen der Realität und Erdenschwere erheben will. Viele Gedichte, vor allem in der Romantik, sind voll dieser Sehnsucht:" [...] und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus" Eichendorf)" [...] Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht,
Der Genius jauchzt in mir! Doch sage,
warum wird jetzt der Blick von Weh und feucht?" E. Mörike)
Alle diese Vorstellungen und Bilder beinhalten das zentrale Thema des Symbols: Die Entfernung von der Mutter Erde, der Materie, dem Körper, Befreiung von unseren menschlichen Abhängigkeiten und Begrenzungen, sich über die Erdenschwere, die belastenden Dinge des Alltag erheben.
"Die Gedanken sind frei [...] " "Fliege mit mir in den Himmel hinein [...] " "I'am sailing"
Goethe spricht in seinem Gedicht "Grenzen der Menschheit" die damit verbundene Gefahr an:" [...] Denn mit Göttern soll sich nicht messen
irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne, nirgends haften dann
Die unsichern Sohlen
Und mit ihm spielen Wolken und Winde."
Angelus Silesius meint wohl Ähnliches mit den Worten:
"Du kannst den Himmel nicht erreichen, wenn du die Erde verrätst".
Damit ist, wie im Mythos von Dädalus und Ikaros, die Ambivalenz und Polarität des Symbols ausgesprochen: Einerseits die Freiheit, die Sehnsucht und Fantasie, die alle Grenzen überschreiten will, andererseits überzogene und gefährliche Größen- und Allmachtsfantasien, die der Flucht und Leugnung der eigenen, menschlichen Begrenzungen dienen sollen.
Der Mensch braucht die Freiheit und den Mut der Fantasie, um neue äußere und innere Räume zu entdecken, Enge zu überwinden, nicht in den Pflichten und Forderungen des Alltags und der Realität einseitig gefangen zu sein (siehe das Bild des Labyrinths im Mythos), aber es besteht die Gefahr, die Erdenhaftung, den Bezug zu den realen Möglichkeiten und zur konkreten menschlichen Existenz zu verlieren.
Das Motiv des Fliegens kann auf eine narzisstische Problematik verweisen: Sich über die eigene Begrenzung und die anderen erhoben glauben und nur auf sich und die eigene Größe bezogen sein (siehe die Redewendung: "Er ist ein Überflieger"). Zu denken ist auch an die Flucht vor den Forderungen und Anstrengungen des Lebens beim Gebrauch von Drogen.
Vom finalen Aspekt her dürfte bei einem Menschen, der zu sehr in Abhängigkeiten, Belastungen, Pflichten und "Erdenschwere" steckt, der Traum vom Fliegen auf eine notwendige Entwicklung des geistigen und Fantasie- und Gefühls-Raums, der Öffnung für Gedanken-Freiheit und Leichtigkeit und des Vertrauens in den eigenen Wert und das eigene Können verweisen.
Anders bei einem Menschen, bei dem der Bereich von Denken, Intellekt, Geist, Phantasie, Intuition, womöglich die Überzeugung von der eigenen Größe und Unfehlbarkeit zu sehr betont ist, dann folgt im Traum dem Fliegen meist der Absturz.
Entsprechend häufig tauchen Flugträume bei jugendlichen Anorektikerinnen, deren Erkrankung unter anderem mit dem Wunsch, die Abhängigkeit von Körper und Erde zu überwinden, zu tun hat, auf. So träumte eine Jugendliche, die zu wenig in Bezug mit ihrer Körperlichkeit und einseitig im denkerisch-geistigen Raum verhaftet ist, dass sie als Schwan flog und von einem Mann abgeschossen wurde. Das ließ sich als Ausdruck ihrer Angst vor einem Einlassen auf das Männliche, von dem sie sich in ihrer Freiheit bedroht fühlte, sehen, war gleichzeitig aber auch der Hinweis auf den notwendigen Kontakt zu Instinkt, Sexualität und Aggression in ihr selbst.
Literatur: Standard
Autor: Steigenberger, Maretta