Geheimnis

Aus symbolonline.eu
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Keyword: Geheimnis

Links: Individuation, Mysterium, Tabu

Definition: Ein Geheimnis ist etwas, das vor anderen Menschen verborgen werden soll.

Es war Martin Luther, der erstmals für das lat. Wort "mysterium" das Wort Geheimnis gebraucht hat. Es enthält als Kern "Heim", was soviel wie vertraut, zum Heim gehörend bedeutet und geheim "nicht für andere bestimmt" meint. Über Jahrhunderte hinweg behielt die dreifache Einteilung von Geheimnissen ihre Gültigkeit: "arcana naturae", "arcana dei" und "arcana imperii" (Geheimnis der Natur, Geheimnis Gottes und Geheimnis der Mächtigen, der Herrscher). Die Verbindung von Geheimnis mit Religion, Kult, Mysterien, (Initiations-)Riten, mit Macht und der Schöpfung ist uns heute wegen der Säkularisierung und des Einflusses der Aufklärung kaum mehr geläufig.

Information: Simmel bezeichnet das Geheimnis als die größte Errungenschaft der Menschheit und als geistiges Eigentum und postuliert, dass alle menschlichen Beziehungen sowohl auf dem Wissen als auch auf dem Nichtwissen voneinander beruhen."DasGeheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener auf das stärkste beeinflusst. Es charakterisiert jedes Verhältnis zwischen zwei Menschen oder zwischen zwei Gruppen, ob und wie viel Geheimnis in ihm ist."

Interpretation: Geheimnisse umgeben uns im Alltag und beeinflussen unser soziales Verhalten. Jede Lebensphase hat ihre speziellen Geheimnisse. Ein Geheimnis zu wahren, gehört zu den höchsten Gütern. Es geht um den Schutz dessen, "was wir sind, was wir planen, was wir tun und was uns gehört" (Bok 1982).

Geheimnisse stellen unter Umständen Werte dar, für die der Einsatz des Lebens gefordert wird. Geheimnisse besitzen eine Verlaufsstruktur, haben eine "Geschichte", die grob durch die beiden Eckpunkte "Entscheidung" für eine Geheimhaltung und späterer Lüftung gekennzeichnet sind, wenn sienicht lebenslang währen. Es zeichnet sie Formenreichtum, Motiv- und Funktionsvielfalt und Variabilität in Zeit und Raum aus.

Bei der Wahrung eines Geheimnisses kommt dem Schweigen eine wichtige Funktion zu: es schützt das Geheimnis, denn das ausgeplauderte Geheimnis ist kein Geheimnis mehr, und es eröffnet den Zugang zu ihm in dem Sinne, dass sich die tiefsten Geheimnisse auch der eigenen Person, nur in der schweigenden Versenkung erschließen. Von diesem Geheimnis sagt Jung: "Nicht wir haben Geheimnisse, die wirklichen Geheimnisse haben uns." (GW 10, p. 886) Das Geheimnis kann so zu einem lebensbestimmenden Faktor werden.

Gleichzeitig isoliert das Geheimnis. Die empfundene Notwendigkeit, bestimmte Erlebnisbereiche aus der Kommunikation und mit der Zeit auch aus dem Bewusstseinsraum herauszunehmen, zu verdrängen, gehört zum zentralen Geschehen jeder neurotischen Entwicklungsstörung.

An anderer Stelle weist Jung darauf hin, dass man sogar Geheimnisse erfindet, um sich durch den Besitz "vor dem Verfließen im Unbewussten bloßer Gemeinschaft als vor einer tödlichen Gefährdung der Seele zu schützen" (GW 16, p. 124). Das Wissen um Geheimnisse isoliert nicht nur, es erhöht auch.

Märchen geben oft den Hinweis, dass das Wissen um das Geheimnis (z. B. den Zauberring) Kräfte verleiht, die bei der schwer zu lösenden Aufgabe eingesetzt werden können. Jung hat das Fördernde oder den stark machenden Aspekt bei der Wahrung von Geheimnissen wie ihn Märchen beschreiben eher außer achtgelassen und den zerstörerischen, klinischen Aspekt hervorgehoben."So fördernd ein mit mehreren geteiltes Geheimnis ist, so zerstörend wirkt ein nur persönliches Geheimnis Es wirkt wie eine Schuld, die den unglücklichen Besitzer von der Gemeinschaft mit anderen Menschen abschneidet" (GW 16, p. 125).

Das persönliche Geheimnis, das man mit niemand teilt, hängt eng mit Autonomie, mit Individuation und ihrem Schutz zusammen, ja, es leistet sogar einen wichtigen Beitrag zu Autonomieentwicklung bei Kindern und Jugendlichen. Es kann ein Leben lang begleiten und stärken. Es kann aber auch mit Schuld, Scham, Schande, Reue oder Verlegenheit z. B. über ein Verhalten oder eine Unterlassung beschwert sein. Existentielle Geheimnisse machen oft Teil der Persönlichkeit und der Lebensform aus.

Zwei Sprichwörter beschreiben die mögliche unterschiedliche Wirkung: "Man kann seinen Kopf hingeben, sein Geheimnis niemals" (türkisches Sprichwort) - "So schwer drückt nichts, wie ein Geheimnis drückt" (Lafontaine).

C. G. Jung äußert sich folgendermaßen zum persönlichen Geheimnis: "Das Erleben des Unbewussten ist ein persönliches Geheimnis, das nur schwer und nur den wenigsten mitteilbar ist; darum isoliert es" (GW 12, p. 61).

Die relationale Bedeutung der Geheimnisse beschreibt das geteilte Geheimnis, z. B. das Geheimnis als beziehungsintensivierendes Geschenk an den vertrauten Partner. Wenn jemand in ein belastendes Geheimnis hineingezogen wird oder teilt, kann dies schwere Konflikte zeitigen. Ein Beispiel aus dem politischen Bereich: Ein Geheimnisträger der Bundesregierung durfte nicht in die DDR reisen, um vor Verrat oder Repressalien geschützt zu sein.

Familiengeheimnisse dienen der Gestaltung und Bewältigung des Zusammenlebens, der Aufrechterhaltung der Homöostase des Systems bzw. der familialen Funktionstüchtigkeit. Sie haben Förder-, Abwehr- und Schutzfunktion. In jeder Familie gibt es Geheimnisse. Manche haben guten Einfluss und sind konstruktiv, sie schützen die Familie und/oder ihre einzelnen Mitglieder und unterstützen siein ihrem Wachstum und ihrer Individualität. Andere Geheimnisse aber wirken destruktiv. Sie zerstören Vertrauen, Intimität, Freiheit, persönliches Wachstum und Liebe. Bei Geheimnissen der Familie vor Außenstehenden geht es um die Abgrenzung der Familie gegenüber der Umwelt und Einmischungen. Das Geheimnis, das eigentlich jeder kennt und doch vorgeben muss, es nicht zu kennen, ist ein sogenannter "Verrücktmacher".

Berufsgeheimnisse: Freie Berufe wie Arzt, Psychotherapeut, Rechtsanwalt, Seelsorger sind zu Geheimhaltung verpflichtet.

Der Staat schützt einerseits die Privatsphäre seiner Bürger durch Beicht-, Brief-, Post-, Steuer- oder Bankgeheimnis, durch Datenschutz, andererseits bedient er sich der Telefonüberwachung in bestimmten Bereichen, sowie geheimer Informanten, Denunzianten oder verdeckter Ermittler. Dem Staat stehen viele Mittel zur Verfügung, Geheimhaltung zu brechen. Der Schutz des Staates steht über dem des Einzelnen.

Entwicklunglungsrelevante Aspekte: Die meisten Menschen hatten und haben Geheimnisse, und jede Lebensphase hat ihre speziellen Geheimnisse. Es gab sie zu allen Zeiten und in den meisten Kulturen und Gesellschaften.

Geheimnisse haben zu können ist an Sprache, (soziale) Intelligenz, Bewusstsein und Absichtsbildung gebunden. Ein Geheimnis zu haben und zu wahren muss gelernt werden.

Wir wissen von Piaget (1973), dass das Kind außerstande ist, Geheimnisse zu haben. Erst mit dem Erreichen der sozialisierten Sprache und der mit ihr verbundenen Fähigkeit zur Rollenübernahme ändert sich das Verhalten in Richtung auf eine zunehmende Unterscheidung von "innerer" und "äußerer" Welt. Von einem geheimnisfreien Zustand der Symbiose, der Fusion mit der Mutter ausgehend verwandelt sich - inAbhängigkeit von der jeweils erreichten psychosexuellen Entwicklungsphase - Inhalt und Funktion von Geheimnissen. Die Entwicklung verläuft vom Geheimnis als Besitz, verankert in der analen Phase bis zum Geheimnis als Gabe in der (nach-)puberalen Phase. Zu den frühen Geheimniserfahrungen gehören z. B. geheime nächtliche Buchlektüre, Verstecken von Tagebüchern, Geschenken, geheime Treffs, aber auch Lügen. Sie gehören in die Phasen, in der Geheimnisse zu haben und siezu wahren meist spielerisch auf verschiedene Weise gelernt wird. Sexualitäts- und beziehungsbezogene Inhalte werden bevorzugt bei Jugendlichen zu Geheimnissen.

Die Erzählung von Stefan Zweig (1996) "Brennendes Geheimnis" beschreibt auf psychologisch einfühlsame Weise intra-und interpersonale mit einem Geheimnis verbundene Aspekte in der Entwicklung eines jungen Menschen.

Ein mutistisches kleines Patientenkind vergrub am Anfang der Therapie ihr Geheimnis im Sand. Mich berührten die andächtige Stille und die große Sorgfalt bei ihremTun. Ich hörte zufällig, wie sie zu der wartenden Mutter sagte, sie habe ein Geheimnis vergraben. Zum Abschied stellte sie noch zwei Schaufeln neben das vergrabene und mit einem Ei gekrönte Geheimnis. Ich erlebte dies als einen Vertrauensbeweis und als Aufforderung, ihr beim Lüften des Geheimnisses behilflich zuse in. Ihr Geheimnis erwies sich im Lauf der Behandlung als die Frage nach ihrer Herkunft. In der therapeutischen Situation erfahren wir immer wieder, wie folgenreich für das betroffene Individuum und sein soziales Umfeld geheim gehaltene körperliche und psychische Stigmatase in können. Verschwiegene Abhängigkeiten von Alkohol oder Drogen, geheim gehaltene Essstörungen, Organspender oder medizinischer Diagnosen, verschwiegene illegitime Geburt, traumatische Erlebnisse z. B. im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch oder extreme Grenzerfahrungen erfordern einen hohen psychischen Aufwand, der seelische oder körperliche Folgen nach sich ziehen kann. Nur in seltenen Fällen ist Geheimhaltung gerechtfertigt."DerBesitz von Geheimnis trennt von der Gemeinschaft der Menschen. Da für den Libidohaushalt der möglichst reibungslose und vollständige Rapport mit der Umgebung von großer Bedeutung ist, so pflegt der Besitz an subjektiv wichtigen Geheimnissen sehr störend zu wirken. Es ist daher für die Neurotiker in der Behandlung eine ganz besondere Wohltat, wenn er sich endlich seiner Geheimnisse entledigen kann." (Jung GW 5, p. 300)

Literatur: Standard; Seifert, S.: Schweigen und Geheimnis als Symbol und Symptom in: Das Symbol im therapeutischen Prozess bei Kindern und Jugendlichen. Hrsg. Eschenbach, U. (1978) Bonz.

Autor: Löwen, Sigrid