Erbe
Keyword: Erbe, Erbschaft
Links: Geld, Mutter, Tod, Vater
Definition: Der/Das Erbe; die Erbschaft (vom indogerman. horbo: der Zurückgelassene im Sinne von Waise, Diener, Erbe) beschreibt eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen, die von Gebern an Nehmer gerichtet ist. Dabei gibt es vier Bedeutungskreise: das biologische, das materielle, das kulturelle und das kollektive Erbe.
Information: Die unmittelbarste Erbbeziehung ist die genetische. Eine wesentliche Lebensbedingung des Kindes besteht darin, wie gut die von den Eltern erhaltenen Chromosomensätze in seiner seelisch-körperlichen Ganzheit harmonieren. Das kann schon bei Geschwistern völlig verschieden sein, denn denkt man an Erbkrankheiten, vererbte Stärken oder Schwächen, dann kann die vererbte biologische Grundausstattung stark differieren.
Heute geht man davon aus, dass das biologische Erbe nicht getrennt vom sozialen oder kulturellen Erbe betrachtet werden kann, dass vielmehr zu jeder Zeit im Leben eines Organismus (Mensch, Tier, Pflanze) genetisch-biologische, soziale, psychologische, also Umwelt-, Klima-, Kultur-, Gefühls- und andere Einflüsse gleichzeitig zusammenwirken, unter denen es eventuell eine bislang unbekannte Hierarchie gibt.
Das materielle Erbe steht im Zusammenhang mit dem Tod einer Person und ist daher eine archetypische Situation, die eine zeitliche Abfolge bezeichnet. Sie ist mit aufwühlenden Emotionen und manchmal einer Veränderung der Lebensverhältnisse verbunden. Die Erbschaft, die weitergegeben wird, führt oft schon vor dem Erbfall zu Konflikten zwischen den beteiligten Personen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie mit bestimmten Verpflichtungen – ausgesprochen oder unausgesprochen – verknüpft ist. So besteht ein Sinnzusammenhang zur Bedeutung von Diener, Knecht, Sklave. Letzteres Schicksal kann manchmal nur abgewendet werden, indem das Erbe ausgeschlagen wird.
In ländlichen Verhältnissen kannte man in Deutschland Jahrhunderte lang zwei Erbrechtsformen: die Realteilung sah die Söhne der Familie gleichberechtigt als Erben vor. Dadurch entstanden schon nach 3-4 Generationen so kleine Wirtschaftseinheiten, dass das Überleben einer Familie nicht mehr gesichert war. Dieses Erbe war oft eine Last. Die andere Erbform sah vor, dass der älteste (oder jüngste) Sohn das ganze Erbgut ungeteilt erhielt. Übrige Brüder mussten sich andere Einkommensquellen suchen. So hat Erbe-Sein oft Rivalitäten ausgelöst und war manchmal sogar tödlich. Geschichtsbücher und die Bibel sind voll von solchen Erfahrungen. Töchter wurden in keiner Erbform berücksichtigt, denn sie erhielten eine Mitgift. Verheiratete Erbinnen, Mütter und Großmütter heutiger Frauen, erhielten in Deutschland erst in den 50iger Jahren das Recht, ohne Mitwirkung des Ehemanns über ihr Erbe zu verfügen.
Solche Erfahrungen gehören zum kulturellen Erbe. Sie wirken sich auf das individuelle Bild (imago) der Söhne und Töchter von ihren Vätern und Müttern aus. Zum kulturellen Erbe gehören alle Traditionen, Werte, Einstellungen, die dem Einzelnen über die Erfahrungen der Mitglieder seiner Familie in ihrem jeweiligen Umfeld, mit Überzeugungen, religiösen Prägungen, Berufstraditionen, Überlieferungen aus Landschaft, Schicht- oder Volkszugehörigkeit und vielem anderem weitergegeben werden. Haben sie Krieg, Flucht, Vertreibung, Exil oder Hunger erlebt? Gibt es Familiengeheimnisse wie Schande (uneheliche Geburt, untergeschobene Kinder) oder Straftaten (Mord, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch der Töchter)? Auch wenn solche Fakten den Erben verschwiegen werden, treten sie oft später als Ursache von psychischen Störungen auf. So müssen in Psychotherapien noch heute Themen aus der Zeit des Dritten Reiches besprochen werden: Väter und andere Familienmitglieder als Täter, "Verräter", Deserteure oder Widerständler, Mütter und Großmütter in ihrer Prägung durch das faschistische Frauenbild.
Bewertung und Umgang einer Gesellschaft mit Erfahrungen von Gewalt (als Beispiel) unterscheiden sich zwar in der kulturellen Ausprägung, ihnen liegt aber eine kollektive Bewertung zugrunde, denn zeit- und kulturübergreifend wird das Töten von Menschen im Krieg als notwendig toleriert, in Friedenszeiten als Verbrechen geahndet. Diese doppelte Bewertung des Tötens gehört zum kollektiven Erbe der Menschheit, das sich über kulturelle, soziale und seelische Bedingungen der Menschen bis in jedes Individuum hinein auswirkt.
C. G. Jung hat solche kollektive seelische Inhalte beschrieben. Sie gehören als die von ihm so genannten Archetypen zum kollektiven Erbgut (GW 16 § 344) und sind im kollektiven Unbewussten der Seele angesiedelt."Das kollektive Unbewusste ist die gewaltige geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wiedergeboren in jeder individuellen Hirnstruktur." (Jung, GW § 342.) Ganz sicher gehört auch das urmenschliche Bedürfnis, Spuren auf der Erde zu hinterlassen oder Erben zu haben, zu den Archetypen der Menschheit.
Interpretation: Erfahrungen mit dem eigenen Erbe machen die meisten Menschen erst in Krisensituationen. So verweisen kollektive Krisensituationen wie Inflation, Krieg oder Enteignung, in denen Werte, Maßstäbe und materielles Erbe verloren sind, den Einzelnen auf seine eigentlichen, kreativen Fähigkeiten für Überleben und Neubeginn zurück. Oder jemand ist in eine persönliche Krise geraten, weil er durch Erbe die familiäre Aufgabe übernommen hat, für ein Gut, ein Unternehmen, für Menschen, eine Familientradition oder ähnliches zu sorgen, wobei er aber so sehr an der Verantwortung und Verpflichtung leidet, dass er das Gefühl hat, sein eigenes Leben zu verpassen. Andere Menschen machen Erfahrungen mit ihrem Erbe eher auf rein seelischer Ebene. Sind zum Beispiel in einer Familie kleinliche oder bildungsfeindliche Maßstäbe überliefert und ein junger Mensch bricht daraus aus, dann können die verinnerlichten Maßstäbe ihn später in seiner Entwicklung in massive Krisen führen, die nicht selten Krankheit bedeuten. Die Erfahrung aus Psychotherapien zeigt, dass Menschen immer wieder an ihrem Erbe leiden. Das ist oft sogar dann der Fall, wenn das Erbe eigentlich sehr positiv ist (eine bestimmte Begabung). Selbst dann wird oft eine moralische Aufgabe mit dem Erbe verbunden, der man sich nicht entziehen kann, ohne an der eigenen Seele krank zu werden."Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen" (Goethe, Faust I) beschreibt die Aufgabe für den, der erbt. Es geht um die Aneignung überlieferter Dinge durch eigenen Einsatz zu sinnvoller Nutzung.
Literatur: Standard
Autor: Friedemann, Monika