Zerstückelung
Keyword: Zerstückelung
Links: Alchemie, Axt, Messer, Nigredo, Schamanismus, Solutio, Tod
Definition: Zerstückeln, zerstören, auflösen, trennen, entzweien, auseinanderreißen, lat. Dis. In Dantes göttlicher Komödie ist Dis die Verkörperung des Satans, der die Körper in der Unterwelt in Stücke zerhackt.
Information: Das Zerstückelungsmotiv ist zentraler Bestandteil von Schöpfungsmythen in Babylonien, bei den Azteken, in der nordischen, chinesischen und indianischen Mythologie. Viele Kosmogonien der Welt entstehen aus den zerstückelten Körperteilen eines Tieres oder Riesen, oder einer Gottheit. Bei den Azteken wird die Erdgottheit Coatlicue zerstückelt und ihre beiden Hälften bilden den Himmel und die Erde, ihre Augen und ihr Mund werden zu Höhlen und Quellen. Rituelle Zerstückelung und das anschließende Essen des Zerstückelten gehört zum aztekischen Ritus, es wird der zerstückelte Gottesleib gegessen. In der hinduistischen Rigveda wird der 1000köpfige und 1000füßige Urmensch geopfert und aus seinem Geist entstand der Mond, aus den Augen die Sonne, aus dem Mund das Feuer und aus dem Atem der Wind.
Interpretation: Das Zerstückelungsmotiv ist mit dem Motiv des Opfers verbunden und gehört in den Raum der Todes- und Wiedergeburtssymbolik. Bevor etwas reintegriert und ganzheitlich zusammengefügt werden kann, bedarf es der Zerstörung und Zerstückelung, die Todeserfahrung geht jeder Wiedergeburt voraus, Desintegration ist unumgänglich für Reintegration, wie die Schöpfungsmythen deutlich machen. Im finnischen Epos der Kalevala wird Lemmikäinen zerstückelt und in den Totenfluss geworfen, von seiner Mutter wieder zusammengesetzt und in ihrem Schoß belebt. Der Gott Osiris wird von Set in 14 Teile zerstückelt und in alle Winde zerstreut. Isis sucht nach den Teilen, findet alle bis auf den Phallus und fügt sie liebend wieder zusammen, belebt das Getötete durch Zusammensetzen und empfängt Horus von ihm. Der Phallus des hinduistischen großen Gottes Mahadera wurde von Priesterinnen der Großen Göttin abgeschnitten und in Stücke gehauen. Die Teile kamen in die Erde und brachten eine neue Menschenrasse hervor, die Lingagas (Männer des Lingam).
In der mexikanischen Mythologie schuf die Erlöser-Gottheit Quetzalcoatl neue Menschen, indem er sein Glied abschnitt und das Blut der Herrin des Schlangenschurzes zu trinken gab. Die Gestalt dieser Göttin wird oft dargestellt mit vielen abgeschnittenen Gliedern, die an ihrer Hüfte hängen, z. B. Anath, die Herrscherin über Leben und Tod. Das Zerstückelungsmotiv hat auch Verbindung zu den Kastrationsmythen im Attis-Kybele-Kult. Die Riten der Selbstkastration sind bei den Priestern und Priesterinnen der magna mater, der Großen Mutter ein Teil der Göttinnenverehrung. Während Männer sich den Penis abschnitten und der Göttin opferten, zerstückelten Frauen sich, indem sie eine Brust abtrennten.
Zagreus-Dionysos wird zuerst von den Titanen in Stücke zerrissen und bis auf das Herz verschlungen. Zeus findet das Herz und lässt daraus Dionysos neu erstehen. Zerreißen und Zerstückeln auch durch die Mänaden in orgiastischen, dionysischen Ritualen, " omophagia", in denen das rohe Fleisch der zerstückelten Opfer verschlungen wurde im Gedenken an Dionysos, der auch den Beinamen hat" Fresser des rohen Fleisches". Zum Dionysoskult gehört die Zerstückelung und das Zerfleischen der Opfertiere. Die Tiere verkörpern den von den Titanen zerrissenen Dionysos-Zagreus aus dessen Zerstückelung der Gott Dionysos hervorgeht. Jäger, die Tiere lebend fangen um sie rituell zu opfern und deren rohes Fleisch zu essen, werden im griechischen zagreus genannt. Diese Riten sind Reinszenierungen der Verschlingung von Dionysos und verkörpern symbolisch die mystische Einheit mit dem Gott, die mystische Teilhabe an der göttlichen Potenz, die Integration von Dionysos.
Das Motiv des Opfers, des Leidens und der Zerstückelung und Wiederauferstehung im christlichen Kontext ist der gekreuzigte Jesus. Bei der Kreuzigung findet eine innere Zerstückelung statt, die Knochen zerbrechen, die Bänder zerreißen, die Glieder werden durch die Nägel zerteilt. Die Transformation in der Auferstehung wird im Symbol der Messe als mystische Teilhabe am göttlichen Geist und Wesen durch Einverleibung seines Leibes (Brot) und seines Blutes (Wein) reinszeniert. Auch die Reliquienvereehrung von Heiligen und Märtyrern steht im Kontext einer participation mystique, in denen das Teil für das Ganze steht. Zerstückelte Körperteile verkörpern als Reliquien das Paradox von Tod und Leben, von Vergänglichkeit und ewiger Präsenz, sowohl im christlichen als auch im buddhistischen Kontext.
Zerstückelung als Opfer der Erneuerung wird auch im Motiv des rituellen Königsmordes sichtbar und steht in Zusammenhang mit den Fruchtbarkeitsriten der Großen Mutter, in denen die blutige Zerstückelung des Königs die Fruchtbarkeit der Erde garantierte. Tötung, Opfer und Zerstückelung sind magische Instrumente der Fruchtbarkeit. Der König opfert auch sich selbst, zerstückelt seinen Körper mit einem Messer, schneidet sich seine Glieder ab und tötet sich im rituellen Akt der Erneuerung, z. B. in südindischen alten Riten.
Zerstückelung ist auch ein zentraler Bestandteil der Initiationsriten. Die schamanische Initiation der Medizinmänner kennt Zerstückelung, Leiden und Krankheit als eine Art Vorbedingung, um heilerisch zu wirken. In der Unterwelt wird der Körper der Initianten von den Ahnengeistern oder den Dämonen in Stücke zerhackt und die Teile werden den Krankheitsgeistern zum Fraß vorgeworfen, denn ein Schamane kann nur Krankheiten heilen, die durch Geister bewirkt sind, wenn diese von seinem Fleisch gegessen haben. Die Glieder werden zerteilt, die Knochen gewaschen, die Augen aus den Augenhöhlen herausgerissen in einem Akt heiliger Zerstückelung, der mit großem Leiden verbunden ist. Darnach werden die Teile wieder zusammengesetzt, Krankheit und Tod überwunden.
Die weit verbreitete Initiationszerstückelung steht in allen Riten für die Ganzwerdung durch das Opfer, für Zerstörung und Leiden im Dienste des Werdens und der Heilung. Die Neophyten werden zerstückelt als Vorbedingung für das Einwohnen des reinen Geistes, bei den River-Patwin-Indianern, in Sibirien, auf Malekula und bei den australischen Medizinmännern.
In Märchen ist Zerstückelung als Zerstückelung des Drachen ein häufiges Motiv, aber auch als Abschneiden und verstümmeln: das Mädchen ohne Hände, Aschenputtel, und die Wiederbelebung des Zerstückelten in: Machandelboom, Bruder Lustig, Fitchers Vogel. In den germanischen Sagen häufiges Motiv wiederbelebter zerstückelter Fische, Böcke, Widder, Vögel. Oft fehlt dem zusammengesetzen Zerstückelten ein Glied, was auf die Kastration deutet. Kriminologisch ist auffällig, dass Serienmörder und sexuell motivierte Mörder die Leiche häufig zerstückeln und kastrieren. Moderne Varianten des Dionysoskultes, mit Opferung, rituellem Verzehren, kannibalistischem Einverleiben der zerstückelten Glieder des Opfers, vor laufender Videokamera im Internet. Im Krieg in Vietnam und Ex-Jugoslawien wurden den Feinden die Hoden abgebissen, der Penis abgeschnitten und dem toten Körper in den Mund gesteckt. In diesen demütigenden Kriegspraktiken scheint eine archetypische Dimension auf, die mit Angst, Macht und Zerstörung zu tun hat.
Auch in den Mythen repräsentierten die reproduktiven Organe die lebensspendende Quelle von Fruchtbarkeit und Macht. Moderne Varianten des Kybele Kultes lassen sich in der Selbstkastration in Sektenbewegungen und im Kontext der Transsexualität (Operation) wieder finden. Kulturell sanktionierte Zerstückelungen und Verstümmelungen stellen das Einbinden der Füße dar und die genitale Verstümmelung von Frauen als Ausdruck von Macht, Kontrolle und Unterwerfung. Die Beschneidungsmethoden an jungen Frauen, die Verstümmelung ihres Genitals ist als Ausdruck der Angst vor dem großen Weiblichen (Göttin) und als Angst vor der Hexenhaftigkeit des Weiblichen zu verstehen, das beherrscht werden muss (Vergewaltigung).
In der Psychotherapie wie auch in der Alchemie ist Zerstückelung ein wichtiges procedere der Diskrimination im Sinne von divisio, separatio, und solutio, einem qualvollen Vorgang von separatio, morteficatio und putreficatio, der zur Bewusstseinserweiterung durch Leiden führt. Das Solve et coagula im alchemistischen Prozess, die Auflösung und Koagulation, das Trennen und Vereinigen löst das Unvollkommene auf und vereinigt es zu einer höheren Form. Psychologisch bedeutet dies die Integration des Selbst durch die Bewusstmachung abgespaltener Inhalte. Bewusstsein entsteht durch Trennung des Ich von seinem unbewussten Grund. Fordham spricht von Deintegration, dem Auseinanderfallen der ursprünglichen Einheit wie in den Schöpfungsmythen und der Reintegration des Getrennten in ein neues Ganzes.
Das psychologische Äquivalent zum Motiv der Zerstückelung ist die Fragmentierung, ein psychisches Auseinanderfallen, eine Form von Dissoziation, die in ihrer extremsten Form psychotische, schizophrene Ausmaße hat. Zerstückelung bedeutet Verlust der Ganzheit des Selbst, Entzweiung der Ich-Selbst-Achse, Abgespaltenheit, Seelenverlust. Fragmentierung ist gleichzeitig ein notwendiger Schritt auf dem Weg der Bewusstwerdung.
Eine intellektuelle Akademikerin, die jahrelang keinen Zugang zu ihrer dionysischen Seite hatte, sondern in verkopften, rigiden zwangshaften angstbesetzten Strukturen gefangen war, träumte viele Varianten des Zerstückelungsmotivs. In ihrem Küchenwaschbecken schwammen zwei abgetrennte Elephantenköpfe, sie war im Theater und sah auf der Bühne einen Mann, der mit einem Messer Schicht für Schicht sein Körperfleisch und seine Organe abschnitt, sie kam in Kontakt mit menschlichen und tierischen Torsos und ihren selbstzerfleischenden Aspekten, begegnete in ihren Imaginationen ihrem abgetrennten, "vergammelten" Herz und ihren eigenen Knochen im Grab. Der eingesperrte Dionysos überwältigte sie mit archaischen Zuständen von Wut und Zerstörungslust, sodass ihre Motivation für den Beginn der Analyse das Vermeiden von Verrückt- und Eingesperrtwerden in Psychiatrie und Gefängnis war.
Die Analyse erlebte sie über lange Strecken als einen äußerst leidvollen Prozess des Auseinanderfallens, des Verlustes ihrer Identität, sie fühlte ihr Ich in Stücke zerfallen und hatte große Angst, die Teile nie wieder zusammenbringen zu können. Der lange Individuationsprozess war ein schmerzliches Prozedere des Zusammenfügens von Getrenntem, der Reintegration von Abgespaltenem, der Bewusstmachung des Ungelebten, Schattenhaften. Die Zerstückelung des Komplexes und die wachsende Bewusstheit und Achtsamkeit ließ alte, rigide Fehleinstellungen opfern und sterben, um eine neue, liebende Haltung zu gebären.
Literatur: Standard, C. Kerenyi: Dionysos
Autor: Wirtz, Ursula