Schleier
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Definition: Das Wort "Schleier" ist ein Lehnwort, unklar aus welcher Ursprungsspräche. Seit dem 13. Jh im Deutschen gebräuchlich, zunächst in höfischen Kreisen, von 1300 an auf Nonnenkleidung übertragen ("den Schleier nehmen" s. u.). Leichtes, feines, halbdurchsichtiges Gewebe, das über Gesicht, Kopf oder der ganzen Gestalt getragen wird; außerdem können Gegenstände, Tordurchgänge, Bereiche von Räumen usw. damit verhüllt werden.
Information: Mythologie: Sumero-semitisch: Von der Großen Göttin wurde die Welt der Erscheinungen als Schleier gewoben. Babylonisch: Als der Geliebte Ischtar's stirbt, macht sie sich auf, ihn aus der Unterwelt zurückzuholen. Dazu muss sie 7x7 Tore passieren und an jeder Torgruppe ein Schmuckstück und einen ihrer Schleier als Preis für den Einlass ablegen. Dieser "Tanz der Schleier von Ischtar" wurde im Alten Testament umgedeutet in den Schleiertanz der Salome. Ägyptisch: Isis: "Ich bin alles, das war, ist und sein wird, und meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gelüftet." Auf dem mythologischen Hintergrund des Schleiers als Attribut und Symbol vorpatriarchaler weiblicher Gottheiten bekommt der Schleier der Maria bzw. der christlichen Nonnen eine weitere Dimension!
Interpretation: Im Altertum wurden Kopf oder Gesicht verschleiert als Zeichen der Ehrfurcht vor Heiligem, Angst beim Anblick der Gottheit oder bei Buße und Trauer. Priester bedeckten sich bei Opferhandlungen mit einem purpurfarbenen Schleier, auch die Opfernden traten mit verhülltem Haupt zum Altar. Bei Dürre verhüllten die Bauern ihren Kopf als Zeichen der Trauer und des Flehens zur Gottheit (Jer. 14, 3. 4). Mose bedeckte sein Angesicht, als ihm Gott im Dornbusch erschien (Ex 3, 6). Als später sein von der Begegnung mit Gott strahlender Blick die Isrealiten in Furcht versetzte, legte er einen Schleier über sein Gesicht (Ex 34, 33). Bei den Juden hatten Frauen, vor allem, wenn sie in der Öffentlichkeit erschienen, sich mit einem Schleier zu verhüllen; umgekehrt wurden sie entwürdigt durch Abnehmen des Schleiers. Mohammed und seine Mutter werden auf islamischen Bildern - zum Zeichen der Ehrfurcht gegenüber - verschleiert dargestellt. So wurde die Märtyrerin Susanna entschleiert zur Steinigung geführt (Dan 13, 32).
In der römischen Antike wurde der Braut als Zeichen der Vermählung und der religiösen Weihe der Schleier übergeben (Hochzeit = "nuptiae", Verheiratete = "nuptae" von "obnubere" = bedecken."Nubes" = Wolken verhüllen den Himmel). Die Vestalinnen trugen als unverletzbare, keusche Bräute der Gottheit einen weißen, purpurverbrämten Schleier, was für die gottgeweihten Jungfrauen und Bräute Christi im Christentum übernommen wurde; der Schleier wird bei der Consecratio der Nonne durch eine besondere Weihe zum Sakramentale und heiligen Symbol erhoben. Die Übergabe geschieht mit den Worten: "Empfange den heiligen Schleier [...] als Kennzeichen, dass du die Welt verachtest und dich Christus Jesus [...] als Braut für immer unterworfen hast."
Mönche orientalischer Riten tragen noch heute einen mit der Kopfbedeckung verbundenen Schleier, möglicherweise in Anlehnung an Origines, demzufolge Christus der Schleier ist, mit welchem der Kopf umhüllt wird. Alte Kunstwerke lassen erkennen, wie die Schleier getragen wurden: Nur in den ersten beiden Jahren war die ganze Frauengestalt in einen Schleier (Palla) gehüllt, in der byzantinischen Periode auch Maria, während vom MA an ihr lang herabwallendes Haar den Schleier ersetzt; russische Ikonen halten an der byzantinischen Tradition fest.
Im Neuen Testament (l. Kor. 11, 4-15) wird ausdrücklich die Verschleierung der Frauen verlangt. Heute gilt nur noch in einigen muslimischen Ländern Schleierzwang für Frauen und ist zum Symbol geworden für Emanzipation bzw. Unterdrückung der Frauen in diesen Ländern. (Schador= Gesichtssschleier, Tarhasch = Kopfschleier, Burka = bis auf die Füße reichend).
Die Verhüllung der Frau entspricht nicht dem ursprünglichen islamischen Gesetz, sondern wurde erst nach dem Tod des Propheten Mohammed von strengen Theologen und unter dem Einfluss des iranischen Dualismus zwischen Mann und Frau auch in den arabischen Ländern zur Pflicht gemacht.
Im übertragenem Sinn versteht man unter Schleier etwas, was die Sicht behindert, aber nicht zu greifen ist - Tränenschleier, Schleier im Auge, Schleierwolken, Nebelschleier, Schleier können sich auflösen, zerreissen, dichter werden, können zerissen, geöffnet, abgelegt, gehoben, gelüftet oder durchschritten werden; mit Schleiern kann gespielt, verhüllt, verborgen, bedeckt, geschützt, eingehüllt werden. In diesen sprachlichen Wendungen wird der luftige und vieldeutige Charakter des Schleiers deutlich. Zwar ist er als (ver)bergendes Kleidungsstück dem Bauchraum, somit dem mütterlichen Archetyp verbunden, doch die Luftigkeit seines Wesens und sein Bezug zum Sehen / Erkennen verbinden ihn mit dem Geistigen. Seinem Ursprung nach ist er ein Kleidungsstück, das nicht vor materiellen Widrigkeiten (Kälte [...] ) schützt, sondern eine rituelle Bedeutung in der Begegnung Mensch-Gottheit bzw. im Raum, transzendenter Erfahrung und Erkenntnis hat.
Schutz und Verbergen können hier paradox vereint sein, wie es etwa das Gedicht "Das verschleierte Bild zu Sais" von F. Schiller zum Inhalt hat: Geschützt werden soll nicht das hinter dem Schleier Verborgene, sondern das sich am Schleier "stoßende" Subjekt, der nach Erkenntnis der Wahrheit Suchende. Ähnlich etwa bei Rumi (islam. Mystiker): die Schönheit der Blumen - zwar Abglanz des himmlischen Geliebten - bilde doch einen farbigen Schleier für jene Schönheit, die zu stark sei, direkt gesehen zu werden."
Andererseits behindern Schleier die Suche nach Gott und müssen auf dem mystischen Weg durchschritten werden: Bei vielen Sufis ist die ganze Welt ein Schleier vor dem wahren Ziel - ebenso im Buddhismus und Hinduismus: "Maya" ist die illusionäre Welt der Erscheinungen. Selbst Bestandteile der Frömmigkeit wie das dhikr (=Gottesgedenken), die Erinnerung an Sünde, den Werken des Gehorsams große Aufmerksamkeit widmen, himmlische Belohnung erwarten, Wunder ersehnen, gar die Buchstaben des göttlichen Namens, können Schleier sein. Wissen kann sogar der größte Schleier sein, der den Menschen von Gott trennt, denn nur in der Unio Mystica kann der Schleier der Unwissenheit aufgehoben werden, der die wesenhafte Identität zwischen Gott und seinen Geschöpfen verhüllt.
Das immaterielle, paradox-doppel-deutige Wesen des Schleiers wird in der Formulierung alGhazzali's (islam. Mystiker und Philosoph) ausgedrückt: "Schleier gemischt aus Licht und Dunkelheit" - Licht und Dunkelheit gelten in der Sufi-Mystik als unmittelbarer Selbstausdruck einer Grunderfahrung des Göttlichen; der Schleier ist also - auf rational-logisch nicht zu begreifende Weise – identisch mit dem Göttlichen, das er zugleich verhüllt; Verbergen und Enthüllen fallen im Schleier in eins."Die Reise des Sufi zu Gott beginnt mit den Gedanken, daß die Welt der Erscheinungen ein Schleier ist, der das Göttliche verhüllt. Am Anfang der Suche heben wir den Schleier und werden uns bewußt, das Schleier und Göttliches ein und dasselbe sind. Der Schleier ist die Theophanie: Manifestation des Göttlichen durch seinen Namen und Eigenschaften. Blicken wir auf den Schleier, sehen wir nichts als das Göttliche". (Bakhtiar, 1987, S. 32)
Der Schleier verkörpert auf geheimnisvolle Weise das Numinose, er ist Ausdruck und Attribut seines Geheimnisses, in seinem innersten Kern sind die Pole von Offenbarung und Illusion, Wissen und Unwissenheit, eins. So symbolisiert das Tragen des Schleiers Demut vor dieser tieferen Wahrheit und gleichzeitig Teilhabe an ihr; psychologisch kann das Verhüllen Introversion und Zentroversion bedeuten, das Ablegen der Schleier (Schleiertanz) Rückkehr in die Welt äußerer Erscheinungen bzw. das Spiel der Maya.
Literatur: Standard, Schimmel, 1995
Autor: Rafalski, Monika