Nachtmeerfahrt
Keyword: Nachtmeerfahrt
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Definition: Der Begriff der Nachtmeerfahrt geht auf den Völkerkundler Leo Frobenius zurück. Demnach folgen die Mythen solarer Götter und Helden dem Bild des Sonnenlaufs: Die Sonne geht im Westen im Meer unter (wird verschlungen). Auf ihrem Weg durch die Tiefe wird sie von allerlei Gefahren der Finsternis bedroht bis sie schließlich im Osten neugeboren wieder aufersteht.
Information: Viele Märchen und mythischen Motive folgen diesem Sonnengleichnis. In der altägyptischen Vorstellung fährt Ammun-Re, der Sonnengott nach dem Untergang auf dem unteridischen Nil oder dem Urwasser des Nun. In der Tiefe wird er von der Riesenschlange Apophis bedroht, die das Wasser des Nun austrinkt. Die Barke des Sonnengottes gerät im Reich des Unterweltgottes auf Sand. Durch die Hilfe von Thot und Isis kann sie ihren Weg fortsetzen, Ammun-Re am Morgen wieder auferstehen. (Clarus, 1979) Diese mythische Vorstellung ist Matrix für die Vorstellung der alten Ägypter vom Leben nach dem Tod. In der griechischen Mythologie sind es Herakles und Odysseus, die eine der Nachtmeerfahrt entsprechende Reise in die Unterwelt antreten. Der sumerische Held Gilgamesch taucht tief ins Wasser hinab um das „Kraut der Verheißung“ zu gewinnen, das ihm Jugend und Unsterblichkeit verspricht. Märchen, in denen das Sonnengleichnis der Nachtmeerfahrt aufscheint, sind z. B. „Frau Holle" und „Das Wasser des Lebens“. (KHM 24, 96)
Das bekannteste literarische Beispiel einer Nachtmeerfahrt ist Goethes „Faust“ Teil II, in dem Faust zu „den Müttern“ absteigt, ins “Unbetretene, / Nicht zu Betretende [...] “, „umschwebt von Bildern aller Kreatur.“
Faust tritt keine Reise in äußere Gefilde an, sondern begegnet den Bildern der Sehnsucht, der Begierden und der dämonischen Mächte der eigenen Seele. Auch die allegorische Jenseitsreise durch das Inferno in Dantes „Die göttliche Komödie“ entspricht dem Begriff der Nachtmeerfahrt. In der Alchemie ist die Nigredo ein Bild für die Nachtmeerfahrt, für die sie viele Beschreibungen kennt, z. B. „der König ertrinkt im Meer“, „die Sonne ertrinkt im Merkurbrunnen“ oder „König und Königin tauchen in das Bad des Merkurbrunnens“.
Interpretation: Das Meer, in das der Held in der Nacht hineintaucht, verkörpert das Unbewusste und, in mehr personifizierter Form, den mütterlichen Archetyp, der in seiner bedrohlichen Form in vielerlei Gestalt erscheinen kann (verschlingendes Ungeheuer, Schlange, Flut, Todesfluss, Sarg, Grab, Höllenschlund, Unterwelt, Klappfelsen). Der Held muss den Abstieg in den unbewussten, weiblich-mütterlichen Bereich wagen, was einem Sterbeprozess gleichkommt, um in der Tiefe der Dunkelheit das (ewige) Leben (Unsterblichkeitskraut, schwer erreichbare Kostbarkeit, Wasser des Lebens) zu gewinnen, damit er als ein Erneuerter wieder geboren werden kann.
In der Analytischen Psychologie ist die Nachtmeerfahrt Metapher für den psychischen Prozess den der Analysand vollzieht, indem er in Träumen und Imaginationen mit den seelischen Bildern der persönlichen Vergangenheit, der unbewussten Komplexe, und der Archetypen des kollektiven Unbewussten konfrontiert wird, um sie bewusst zu reflektieren. Dem Modell der Nachtmeerfahrt folgend entspricht das Ich-Bewusstsein dem solaren Helden (vgl. Bewusstseinsentwicklung). Die Nachtmeerfahrt ist ein Bild für den psychischen Inzest (Inzest hier gemeint in seiner symbolischen Bedeutung als das Eingehen in die Mutter, als der Ursprungsmatrix allen psychischen Lebens und des Bewusstseins). Sie bedeutet das Überschreiten eines Tabus, was nur nach Überwindung von Widerständen und Ängsten vollzogen werden kann.
Literatur: Standard
Autor: Daniel, Rosmarie