Jenseits
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Definition: Unter dem Jenseits versteht man üblicherweise einen Bereich der Existenz, der mit den üblichen "diesseitigen" Möglichkeiten des Erkennens und Wahrnehmens nicht zugänglich ist.
Information: Im archaisch-mythischen Weltbild setzt sich die Gesamtheit des Seins aus Diesseits und Jenseits zusammen. Bei einem interreligiösen Quervergleich fällt auf, dass alle Religionen, trotz unzähliger Differenzen im Einzelnen, eine gemeinsame Grundstruktur besitzen: den dualen Glauben, das Weltganze bestehe aus der Zweiheit von Diesseits und Jenseits. Dieses Weltbild herrschte von der Altsteinzeit bis zum Beginn der europäischen Neuzeit überall. Neben "dieser" Welt gab es die "andere"; man lebte "hüben" und "drüben", im Leib "hienieden", mit der Seele "dort oben ".
Beide Welten waren grundverschieden, dafür vielfach auf einander bezogen und in einander verwoben. Jenseitige Wesen konnten "Fleisch werden" (sich inkarnieren), und Sterbliche wurden durch Apotheose in den Rang von Göttern erhoben oder verkamen postmortal zu unerlösten Geistern und Dämonen. Das Diesseits galt als die vordergründige, sichtbare, materielle, vergängliche, den leiblichen fünf Sinnen zug ängliche Welt, das Jenseits als ewig, unsichtbar, hintergründig, unfassbar und unheimlich. Es umfing das Leben der Menschen auf mysteriöse Weise. Es wurde zugleich geliebt und gefürchtet, und von ihm gingen Heil wie Unheil aus.
Interpretation: Das Jenseits tat sich den Alten kund durch "Zeichen": Etwa in Kometen, Feuersbrünsten, ungewöhnlichem Wetter, abnormen astrologischen Konstellationen, Träumen, Visionen und Wundern, im Rauschen heiliger Bäume, Aussehen der Leber von Opfertieren, im Fallen des Loses oder sibyllinischen Orakel. Man war scharf auf "Zeichen". Die Kunst, Auspizien zu lesen, hieß bei den Römern Mantik. Diese wurde vor allen wichtigen Unternehmungen angefragt. Alle alten Völker waren "religiös". Das lat. Wort religiosus stammt von relegere: sorgfältig beachten (das Gegenteil davon ist neglegere: unachtsam sein).
Die Menschen knüpften Kontakt zum Jenseits, indem sie Opfergaben darbrachten, heilige Rituale zelebrierten, sangen, tanzten, fasteten, beteten, uralte Formeln rezitierten und einen gottgewollten Lebenswandel führten. All das stärkte den "Bund" zwischen Diesseits und Jenseits. Die Mythen, die erzählten, wie es zum "Bund" gekommen sei, wurden an Festtagen dramatisch als Riten aufgeführt. Dabei wurden chaotische Mächte, magisch gebannt und Kosmos erhaltend gestärkt. Die Wirkung der Riten war real: Nach ihrer Inszenierung war die Welt wieder in Ordnung.
Ob es überhaupt ein Jenseits gäbe, konnte zurzeit des archaischen Weltbildes noch gar nicht gefragt werden, so selbstverständlich war der Glaube an ein Jenseits. Der Einzelne empfand sich nicht als Individuum im modernen Sinn und fügte sich in der Regel instinktiv ins Kollektiv ein. Die westliche Aufklärung und ihr: "Wage selbstständig zu denken !" ist menschheitsgeschichtlich eine junge, noch lange nicht überall verbreitete Errungenschaft. Das 2-Welten-Schema ist seinerzeit dadurch entstanden, dass innere Wahrnehmungen für Wahrnehmungen einer außen existierenden anderen Welt gehalten wurden. Visionen, Träume und Inspirationen wurden konkretistisch aufgefasst. Wenn jemand beispielsweise in einer Vision einen Engel vor sich sah, traute er naiv dem Augenschein und meinte, der Engel stehe wirklich vor ihm. Er glaubte, hinter den Schleier zu sehen, der das Diesseits vom Jenseits trennt. Er hatte eine Offenbarung, eine re-velatio: Der Schleier (velum) vor dem Jenseits wurde zurückgezogen. Oder wer träumte, er sei einem verstorbenen Angehörigen begegnet, nahm an, seine Seele sei dem Verstorbenen tatsächlich begegnet. Es gab zwei Möglichkeiten, mit Verstorbenen im Traum zusammenzukommen: Entweder fuhr des Träumers Seele während des Schlafes aus und gelangte durch eine Reise ins Jenseits; oder der Verstorbene kam von drüben ans Bett des Schläfers (man nahm an, die Seele sei wach, wenn der Leib schlafe; im Traum hat man ja das Gefühl, wach zu sein!).
Die Tiefenpsychologie hat das Jenseits im Unbewussten des Menschen angesiedelt. Im archaischen 2-Welten-Schema spiegelt sich das dual strukturierte menschliche Seelenleben mit seinen beiden Polen des Bewusstseins und des Unbewussten. In der Vorstellung von einer vielfachen Vernetzung von Diesseits und Jenseits erscheinen die nach außen projizierten Verbindungen zwischen der bewussten und der unbewussten Psyche: der Informationsfluss zwischen dem Assoziations-Cortex in der Hirnrinde und dem tiefer gelegenen limbischen System, der in den zahlreichen neuronalen Verknüpfungen beider Systeme erfolgt. Die archaische Vorstellung von der Überlegenheit des Jenseits über das Diesseits spiegelt schließlich die Übermacht des uralten unbewussten Führungszentrums, des Selbst, über das evolutionsgeschichtlich jüngere Bewusstsein ("Vater - Sohn "). Der Verlust des Jenseits hat die Moderne ethisch und spirituell zutiefst verunsichert (Ethik). Die damit verbundenen Probleme sind gravierend und ohne Tiefenpsychologie nicht zu meistern.
Autor: Kaufmann, Rolf
Literatur: Standard