Atem
Keyword: Atem
Links: Anima, Animus, Atman, Luft, Wind
Definition: Der Atem ist die Luft, die bei der Atmung aus den Lungen ein- und ausströmt. Lebewesen gewinnen durch die Atmung Sauerstoff aus der Umgebung zur Energiegewinnung für die Verbrennung von Nahrungs- oder Körperstoffen und die Abgabe des bei diesen Stoffwechselvorgängen entstehenden Kohlendioxids.
Etymologisch entwickelt hat sich der Begriff aus idg. "etmo", im Deutschen "Atem", im Indischen "atman" = Hauch, Atem, Seele, Selbst, Lebensprinzip, kosmisches, weltschöpferisches Prinzip.
Information: Die menschliche Lunge hat ein Fassungsvermögen von 4-5 Litern und besteht aus 300 Millionen Lungenbläschen. Insgesamt haben die Lungenbläschen eine Oberfläche von rund 200 Quadratmetern – das entspricht in etwa der Größe eines Tennisplatzes.
Ein Erwachsener atmet ca. 15 Mal pro Minute ein und aus, Kinder 20 bis 30 Mal, Säuglinge 40 Mal. Eingeatmete Luft enthält 21 Prozent Sauerstoff, ausgeatmete Luft dagegen 17 Prozent. Während unseres ganzen Lebens machen wir im Schnitt 740. 000. 000 Atemzüge. Die Lungen sind extrem elastisch und wären etwa 100 Mal einfacher aufzublasen, als ein Kinderballon. Die Lunge verliert mit zunehmendem Alter immer mehr an Elastizität; sie kann dann nur noch mit weniger Luft gefüllt werden. Auch die Zahl der Lungenbläschen nimmt im Alter ab. Das führt nicht selten zu Kurzatmigkeit. Bei Asthmakranken lösen Gewitter oft Atembeschwerden aus. Das liegt daran, dass durch Gewitter Pollen aufgewirbelt werden. Beim Husten wird die Luft in den Lungen auf etwa 100 km/h beschleunigt. Manche Quellen nennen auch 200 – 300 km/h.
Interpretation: Die Vorstellung, dass der Atem Träger von Leben, Seele und schöpferisch zeugendem göttlichem Geist sei, ist weitverbreitet und spielt sowohl bei Naturvölkern, als auch in der Antike und im Mittelalter bis in die neuere Zeit eine wesentliche Rolle.
Als Anima (lat.) ist der Atem Ausdruck der natürlichen Phänomene Wind und Luft.
Animus (lat.) dagegen betont den eher abstrakten, geistig mächtigen und inspirierenden (von lat.: spiramen Atem) Aspekt, wie er z. B. in der Vorstellung vom Heiligen Geist seinen Ausdruck findet.
Im Mittelalter wurden Körper und Atem getrennt vorgestellt. Der Körper war gleichsam "tote", mit dem weiblichen Prinzip gleichgesetzte Materie, die erst durch das Hinzukommen des selbstständigen und vom Körper unabhängig existierenden männlich zeugerischen Atem belebt und beseelt wurde. Diese Anschauung gründet in der Schöpfungsgeschichte der Bibel: "Da hauchte Gott" dem aus Lehm geformten Menschen den "Lebensodem" (ruach, hebr.) in die Nase; "so ward der Mensch ein lebendes Wesen." (1. Mose 2, 7).
Christus wiederholt diese Leben schaffende und beseelende Tat Gottes, indem er in der Osternacht die Jünger anhaucht mit den Worten: "Empfanget den heiligen Geist." (Joh. 20, 22) In der indischen Tradition spielt die Kultivierung des Atem (atman, prana) eine zentrale Rolle. In einer hochentwickelten, überwiegend auf Atem-techniken, aufgebauten Übungspraxis (pranayama), verbindet sich der Übende mit dem Selbst (atman), dem reinen Sein jenseits des Geflechts der Illusionen.
Im Volksglauben können durch den Atem als Träger der Seele sowohl gute, heilende und lebensfördernde wie auch zauberische und böse Kräfte wirksam werden. Deshalb kann angehaucht zu werden gefährlich, ja tödlich sein (z. B. giftiger Atem von Drachen, dämonischen Tieren u. s. w.) Im Alb (traum) geschieht die Einengung des Atem durch dämonische Kräfte, die den Brustkorb zusammen pressen.
Eine nicht unwesentliche Eigenschaft des Atem ist seine Flüchtigkeit: Das Leben ist kurz und flüchtig "wie ein Atemzug".
Den rhythmischen, Leben und Tod, Werden und Ent-werden vereinenden Aspekt des Atem und zugleich seinen der menschlichen Willkür entzogenen Ablauf hat Goethe in dichterischer Form zum Ausdruck gebracht:
"Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und dank im, wenn er dich wieder entläßt."
Die Sprache kennt eine Reihe von Redewendungen, in denen die Funktion des Atem für das Leben und die es begleitenden Emotionen und Affekte zum Ausdruck kommt: z. B. "Es schnürt mir den Atem ab"; "der Atem stockt mir". Aus Angst atme ich "gepresst". "Atem-losigkeit" und "fliegender Atem" deuten auf körperliche Anstrengung, aber auch auf emotionales Affiziertsein hin. Im Tod schließlich "hauchen wir unser Leben aus".
In der Tiefenpsychologie spielt der Atem als Symbol der Ganzheit in seiner rhythmischen, die Gegensätze vereinigenden, Funktion in Träumen und Imaginationen eine Rolle. Störungen dieser rhythmischen Funktion zeigen sich z. B. im Asthma, aber auch in anderen, in Symptomen und Träumen zum Ausdruck kommenden, Atemirritationen.
So träumt z. B. eine junge Frau, dass sie jemand gezwungen hat, in eine Kiste zu kriechen. Sie bekommt akute Atem-not und ringt nach Luft. Zu diesem Traum fällt ihr ein Wiederholungstraum aus der Kindheit ein, in dem die Mutter sie in eine Kiste legt und lachend im Wald aussetzt. In dem Kindertraum hat die Mutter deutlich hexenhafte Züge. In beiden Träumen ist die Todesseite des Mutterarchetyps konstelliert. Die akute Atemnot, in die das Traum-Ich der erwachsenen Frau gerät, ist Ausdruck des fehlenden belebenden väterlich-geistigen Elementes, das sich im freien Atmen symbolisiert. Das Eingesperrtsein in die Kiste ist ein Bild, das auf Wandlung hinweist. Initiationsriten bilden häufig einen symbolischen Sterbevorgang nach. Der Initiand stirbt einen symbolischen Tod, um als ein Gewandelter und Gereifter wieder aufzuerstehen oder wieder geboren zu werden (Nachtmeerfahrt). Das Traum-Ich kann diesen inneren Reifungsschritt jedoch (noch) nicht wagen, da die Angst auf Grund der gestörten Beziehung zum Mütterlichen noch zu groß ist. Jeder Schritt, den das Leben von dieser Patientin fordert, macht ihr Angst.
Literatur: Standard
Autor: Daniel, Rosemarie