Fuge

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Keyword: Fuge

Links: Flucht, Kommunikation, Musik, Mysterium, coniunctionis Polarität

Definition: Die Fuge ist nach dem Kanon die strengste Form des mehrstimmigen musikalischen Satzes. Das Thema "flieht" gleichsam durch alle Stimmen (fuga - Flucht).

Information: Eine Stimme beginnt mit dem Thema als Dux (Führer, Subjekt) in der Tonika. Nach Beendigung des Themas nimmt die zweite Stimme es auf in der Dominante als Comes (Gefährte, Antwort), während die erste Stimme das Contrasubjekt (freie Gegenstimme) dazu entwickelt. Die dritte Stimme nimmt das Thema wieder in der Tonika auf, während die zweite das Contrasubjekt entwickelt und die erste Stimme frei weitergeführt wird. Mit der Aufnahme des Themas in allen Stimmen ist die erste Durchführung (Exposition) beendet. In der Regel tritt die letzte Durchführung als Engführung auf, in der das Thema von der nachfolgenden Stimme aufgenommen wird, bevor es in der vorausgehenden abgeschlossen ist. Die einzelnen Durchführungen können durch freie Zwischenspiele (Episoden) verbunden sein.

Als musikalische Form erreichte die Fuge im Werk von J. S. Bach ihre höchste Vollendung. In seiner "Kunst der Fuge" fand sie die gültige Darstellung ihrer musikalischen Möglichkeiten. Klassik und Romantik wandten sich nur gelegentlich der Fuge zu, während die Beschäftigung der modernen Musik mit Bach sie im 20. Jh. Wiederaufleben ließ.

Als Musikform hat die Fuge auch die moderne Bildende Kunst beeinflusst. Georges Braques (Hommage a J. S. Bach 1912), August Macke (Farbige Komposition 1912), Oskar Kokoschka (Bachkantate 1914/16), die Künstler des Bauhauses stellten Linearität und Ineinander der Verläufe der Fuge dar. Heinrich Neugeboren entwarf 1928 ein plastisches Modell der es-Moll Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach. Paul Klee (Im Bach'schen Stil 1919) glaubte gar an die Überlegenheit der Malerei gegenüber der Musik in der Darstellung polyphoner Strukturen. Die strenge Form der Fuge wählte Paul Celan als literarische Ausdrucksform für Unsägliches (Gedicht "Todesfuge").

Interpretation: Bach soll seinen Schülern das Wesen der Fuge am Beispiel des Gespräches veranschaulicht haben. Wie im Gespräch das Thema von den Teilnehmern im Nacheinander und Miteinander unter individuellen Gesichtspunkten erörtert wird, so auch die Fuge. Der Bachspieler Helmut Walcha erklärte die anhaltende Faszination der Fuge aus dem neuzeitlichen Gegensatz von Individualität und Sozietät. Das Ideal von Autonomie und sozialer Zugehörigkeit des Einzelnen sei in der Fuge musikalisch verwirklicht.

Der archetypische Gegensatz "das Ich und die Vielen" scheint in der Fuge auf höherer Ebene überwunden. Bach versuchte gar das theoretisch unlösbare Paradox des christlichen Trinitätsdogmas musikalisch darzustellen und die Dreieinigkeit Gottes erfahrbar zu machen (Tripelfuge Es-Dur im III. Teil der Ciavierübung).

Im Barockzeitalter bildet sich die Polarität von Freiheit und Ordnung in der Kombination von Präludium und Fuge ab. Lebt das Präludium von der raschen Abfolge musikalischer Einfälle, so zwingt die Fuge den Affekt in eine feste Ordnung (Mattheson). Sie gleicht einem aus einem Kern entstehenden organischen und voraussehbaren Wachstumsprozeß. In ihrer klaren Struktur wirkt die Fuge kompensatorisch in kollektiven und persönlichen Krisenzeiten. Mozart und Beethoven wandten sich gegen Ende ihres Lebens der Fuge zu. Schumann komponierte nach schweren seelischen Krisen Fugen über b-a-c-h im Jahr seiner "Fugenpassion" 1845. Reger schuf um die Jahrhundertwende in einer Welt voller Gegensätze und unter dem Druck persönlicher Konflikte seine großen Orgel- und Orchesterfugen.

Das Traumbild Fuge kann sich einstellen, wenn in schweren sozialen und seelischen Konfliktsituationen die Persönlichkeitsstrukturen des Träumers bedroht sind und eine geistig-seelische Neuorientierung notwendig wird. Ein 60jähriger Arzt, bedrängt durch Mobbing und tiefgreifende Umstrukturierung der Klinik, hat den Traum: "Ich befinde mich in einer Wagenburg und höre und spiele die "Kunst der Fuge" von Bach."

Der Fugen-Zyklus in Bachs Spätwerk, in dem die Fuge "eine vollkommene Form ist, in der Musik nichts jenseits ihrer selbst bedeutet" (Strawinsky), verbindet sich mit dem Selbst-Symbol der Wagenburg, die Schutz vor Anfeindung und chaotischen Auflösungsprozessen im beruflichen Umfeld des Arztes bietet. Das Traumsymbol Fuge, die ein aktives, geistiges Hören voraussetzt (Rochlitz), wurde als Aufruf zu aktiver, bewusster Auseinandersetzung mit der Lebenssituation erlebt. Die tiefe musikalische Selbst-Erfahrung festigte die

persönliche und berufliche Identität des Träumers.

Literatur: Standard, Streich (1975)

Autor: Schildmann, Wolfgang