Unbewusstes: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:52 Uhr
Keyword: Unbewusstes
Links: Archetyp, Bewusstsein, Ganzheit, Komplex, Selbst, Symbol, Traum, Unus mundus
Definition: Der Begriff des Unbewussten bezeichnet in der Analytischen Psychologie als eine Art Sammelbegriff die Gesamtheit aller der einem Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht bewussten inneren - körperlichen wie psychischen - Strukturen, Funktionen und Prozesse, die sein Da-Sein, sein So-Sein, sein Erleben und Verhalten bestimmen. Dabei kann es sich beispielsweise um Vergessenes, um unterschwellig Wahrgenommenes, abgewehrte Triebe, Affekte und Phantasien, um frühkindliche Prägungen, Fixierungen und Programmierungen, um eingespielte Verhaltensabläufe und Gewohnheiten, latente Begabungen, schöpferische Fähigkeiten bis hin zu transpersonalen Erfahrungsmöglichkeiten handeln.
Diejenigen einem Menschen unbewusst gebliebenen oder unbewusst gewordenen Erfahrungen, Einflüsse und Potenzen, die seiner Eigenart und seiner individuellen Lebensgeschichte entstammen, bezeichnet die Analytische Psychologie als persönliches Unbewusstes.
Dagegen werden die in der evolutionär entwickelten Genstruktur des Menschen verankerten Voraussetzungen seines psychophysischen Funktionierens und die Gesamtheit der allgemeinmenschlichen Erfahrungs-, Verhaltens- und Entwicklungsmöglichkeiten "kollektives Unbewusstes" genannt.
Information: Um die Bedeutung erfassen zu können, die der Begriff und das Phänomen des Unbewussten in der Analytischen Psychologie haben, muss man sich von allzu schematischen und vereinfachenden Vorstellungen darüber lösen. Schicht- und Kreismodelle, die häufig zur Veranschaulichung des Unbewussten herangezogen werden, können einerseits hilfreich für eine erste Orientierung sein, andererseits aber ein tiefergehendes Verständnis blockieren. Etwas, was so paradox, hintergründig und multidimensional ist wie das Unbewusste, kann kaum durch eindeutige, zwei- oder dreidimensionale Darstellungen befriedigend verständlich gemacht werden.
So legt das bekannte Eisbergmodell, bei dem die Spitze des Eisbergs, die aus dem Wasser herausschaut, das Ich-Bewusstsein repräsentiert und der Rest des Eisberges das Unbewusste, nahe, dass es sich bei dem Unbewussten um ein Unter-Bewusstsein handelt. Das kann zu irreführenden Vorstellungen verleiten. Durch die in unserer Gesellschaft vorwiegend negative Besetzung des Wortes "unten" ruft der Begriff des Unterbewusstseins entsprechend abwertende Assoziationen hervor. Dadurch wird das Unbewusste zum Ort des Bösen, Schlechten, Minderwertigen, des Triebhaften, Bedrohlichen und Gefährlichen, während das Ich-Bewusstsein zu einem höchsten positiven Wert wird.
Überhaupt stellt sich die Frage, ob auch der Begriff des "Unbewussten" gut gewählt ist. Er hat zwar eine gewisse wissenschaftliche Neutralität, ist aber eigentlich ein nichtssagender Begriff, der lediglich das Fehlen von etwas ausdrückt, das Fehlen von Bewusstheit. Auch hat die Vorsilbe "Un" für uns einen verneinenden, meist negativen Charakter, wie wir an den Worten Unfall, Unglück, Unperson oder Unwert sehen.
Das Unbewusste im Verständnis der Analytischen Psychologie ist aber nichts Fehlendes oder Negatives, es ist auch kein Ort oder Behälter, sondern es beinhaltet die Gesamtheit aller regulativer psycho-somatischen Prozesse des Organismus, die uns unbewusst sind. Wieviel von diesen unbewussten Verarbeitungsprozessen überhaupt jemals bewusst wird oder überhaupt bewusstseinsfähig ist, ist umstritten. Die prozentualen Schätzungen hängen jeweils davon ab, was man einbezieht. Die Verhältniszahlen zwischen Bewusstem und Unbewusstem schwanken zwischen 30:70; 1:99 oder 1:Unendlich (beispielsweise, wenn man die Unbewusstheit bezüglich neuronaler, zellulärer oder molekular-atomarer Körpervorgänge und die Austauschprozesse mit der Umwelt einbezieht). Ein anderes, eng mit der Vorstellung eines Unterbewusstseins verbundenes Missverständnis ist, dass das Unbewusste als ein Abfallprodukt des Bewusstseins aufgefasst wird. In dieser Sichtweise ist das Ich-Bewusstsein das Primäre und Ursprüngliche, während das Unbewusste nur all das enthält, was vom Ich-Bewusstsein im Laufe seiner Entwicklung abgewehrt oder vergessen wurde. Die kopernikanische Wende im Bereich des Psychischen, von der bereits Freud sprach, und die heute von der Analytischen Psychologie nachdrücklicher denn je gefordert wird, bezieht sich auf die Anerkennung der Wirklichkeit der unbewussten Psyche als dem entscheidenden Wirkungsfaktor, der allem bewussten Erleben und Verhalten zugrundeliegt.
Unbewusst-Sein ist der ursprüngliche Zustand, das Bewusstsein, so wie wir es heute verstehen, ist in der Evolution erst relativ spät entstanden. Die unbewussten Regulationsprozesse sind die Matrix, aus der sowohl phylogenetisch wie auch ontogenetisch die bewussten psychischen Funktionen hervorgegangen sind und ständig neu hervorgehen. Die Analytische Psychologie unterscheidet das "persönliche" Unbewusste vom "kollektiven" Unbewussten, wobei dies nur ein theoretische Trennung ist und vor allem die Funktion hat, darauf hinzuweisen, dass viele unbewusste Inhalte nicht nur aus unmittelbarer persönlicher Erfahrung und deren Verarbeitung resultieren, sondern bestimmt und präformiert werden durch Dispositionen und Bereitschaften, die alle Menschen miteinander teilen und die sich im evolutionären Prozess herausgebildet haben.
Die Bereitschaftssysteme und Inhalte des kollektiven Unbewussten hat Jung Archetypen genannt, worunter er allgemeinmenschliche Muster des Erlebens und Verhaltens verstanden hat.
Alle Menschen besitzen einen gleichen Organismus, der gleiche Grundbedürfnisse hat und zu gleichen Funktionen (z. B. Sinneswahrnehmung, motorisches Verhalten, Sprachentwicklung, Gefühlserleben, Lern- und Denkvermögen, Gedächtnis, Willenshandlung, Intuition) befähigt ist. Jung spricht auch von der "Menschenart des Menschen". Und überall auf der Welt stößt der Mensch mit seinen Bedürfnissen und Funktionen auf eine Umwelt (sei es die Objektwelt, die Kultur- und Gesellschaftswelt oder der Mitmensch), mit der er in Austausch tritt und zu der er in Konflikt gerät. In Jahrmillionen seiner Geschichte hat der Mensch versucht, auf die Aufgaben und Konflikte, die ihm das Leben und sein Menschsein stellen, Lösungen und Antworten zu finden. Und ein Blick von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis zur Gegenwart zeigt, dass es im Wesentlichen immer die gleichen Fragen und Probleme, wenn auch immer in neuem Gewande, sind, die der Mensch in Kultur, Wissenschaft und Religion bearbeitet hat: seine Beziehung zu den Naturmächten, der Umgang mit den Grundbedürfnissen und Trieben, das Problem von Gut und Böse, die Bewältigung von Konflikten mit anderen Menschen, die Frage der Beziehung zwischen Mann und Frau, Probleme der verschiedenen Lebensalter, der Umgang mit Unglück, Krankheit und Tod, die Beziehungen zum Transpersonalen und die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Jede Gesellschaft und jeder Mensch sieht sich mit diesen archetypischen Grundfragen konfrontiert und muss seine Antwort darauf finden. Und wenn er sie gefunden hat, stellt er fest - unter der Voraussetzung, dass es eine realitätsgerechte, lebensnahe und praktikable Antwort war -, dass sie nicht neu, sondern im Kern uralt ist.
Die Archetypen sind nicht nur latente Faktoren des allgemeinmenschlichen Verhaltens und Erlebens, sondern sie bieten auch Lösungen der durch sie verursachten Konflikte an. Diese archetypischen Lösungen sind zwar gute, tragfähige und realitätsgerechteste Antworten auf die archetypischen Grundprobleme, aber jeder einzelne Mensch muss sie in der jeweils neuen und aktuellen Situation für sich wieder entdecken und an seine Eigenart und die Eigenart der Situation anpassen.
Das ist es, was in der Analytischen Psychologie als die schöpferische Auseinandersetzung mit dem Unbewussten bezeichnet wird. Die Informationen, die wir durch das kollektive Unbewusste und seine archetypischen Strukturen erhalten, vermitteln keine Fix- und Fertigantworten, sie sind häufig noch dunkel und rätselhaft wie das delphische Orakel. Erst durch den schöpferischen Prozess, in dem das Ich-Bewusstsein sich auf die archetypischen Informationen einlässt und sie mit eigenen Mitteln zu gestalten und zu verwirklichen versucht, kann ihre Weisheit und ihr tiefer Sinn erfahren werden.
Das Wissen um die Wirksamkeit der archetypischen Strukturen bestimmt in der Analytischen Psychologie die Haltung und das Vorgehen des Therapeuten. Er verzichtet auf ein Vorher- und Besserwissen darüber, was dem Patienten helfen könnte, und versucht, ihn mit den Selbststeuerungskräften der archetypischen Wirkfelder und des Selbst in Verbindung zu bringen.
Interpretation: Die Dimensionen des Unbewussten wie auch unbewusste regulative Prozesse lassen sich nur schwer symbolisieren, da sie ja nicht direkt erkennbar sind. Dementsprechend hat die Symbolik des Unbewussten meist etwas von diesem dunklen Unerkennbaren: die Tiefe des Wassers und Meeres, die Weite des Kosmos, die Dunkelheit und die Nacht, der Wald und der Sumpf, das Jenseits, der Himmel, die Hölle, die "andere Wirklichkeit", die Leere und das Nichts, das zugleich die Fülle und die Ganzheit ist, der Kreis, die Einheit, die Kreisschlange, die sich selbst frisst und neu gebiert in ewigem Wechsel (Uroborus), die Prima Materia der Alchemisten, aus der der Stein der Weisen gewonnen wird, das Tao, das Mandala, der Unus mundus. Anthropomorphe Symbolisierungen finden sich in Gottesbildern, dem Anthropos, im Symbol des unbekannten Fremden, im Kind, im Trickster und Narren, in der mythischen Gestalt der Hermes-Mercurius oder in dem/der Alten Weisen.
Literatur: Standard
Autor: Müller, Lutz