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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:51 Uhr
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Definition: Der Begriff "Literatur" ist ein seit dem 16. Jahrhundert bezeugtes und bis ins 18. Jahrhundert im umfassenden Sinne von "Wissenschaft" gebrauchtes Fremdwort und beruht auf einer gelehrten Entlehnung aus Lateinisch "litteratura" = "Buchstabenschrift, Sprachkunst". Als "Schrifttum" beinhaltet er alles Aufgeschriebene bzw. Gedruckte, also dem Wortsinn nach den gesamten Bestand an Schriftwerken jeder Art einschließlich Fachliteratur und wissenschaftlicher Arbeiten über alle Gebiete, z. B. Briefe, Wörterbücher, Abhandlungen, Zeitungsartikel, Urkunden etc.
Information: Seit dem 18. Jahrhundert unterschied man mit der Bezeichnung "Belletristik" von Französisch "belles lettres" (= "schöne Wissenschaften") die schöngeistige Literatur mit Einschluss der Unterhaltungsromane von der wissenschaftlichen oder sachbezogenen Verwendung des Ausdrucks. Diese sog."schöne" Literatur im engeren Sinne ist keine zweckgebundene und vom Gegenstand ausgehende Mitteilung von Gedanken, Erkenntnissen, Wissen und Problemen, sondern besteht aus sich heraus und ruft eine eigene Gegenständlichkeit hervor, wird durch eine besondere formale, ästhetische Gestaltung zum Sprachkunstwerk und erreicht in der Dichtung ihre höchste Form. Als solche umfasst sie außerdem über den Wortsinn des schriftlich Niedergelegten hinaus auch das vorliterarische, mündlich Überlieferte wie Mythos, Sage, Märchen, Sprichwort oder Volkslied.
Das neuhochdeutsche Wort "dichten" geht über Mittelhochdeutsch "tihten" auf Althochdeutsch "dihton" (= "schreiben, schriftlich abfassen, ersinnen") zurück, das aus Lateinisch "dictare" (= "zum Nachschreiben vorsagen, vorsagend verfassen") entlehnt ist und das Otfried von Weißenburg als erster im neunten Jahrhundert für poetische Tätigkeit gebrauchte. Neben der allgemeinen Bedeutung "ein Schriftwerk verfassen", die sich bis ins 17. Jahrhundert hielt, zeigt schon Mittelhochdeutsch "tihten" den heutigen Sinn "Verse machen". Daraus ist das Wort "Dichter" abgeleitet, das erstmals im Spielmannsepos "König Rother" aus dem zwölften Jahrhundert als "tihtaere" erscheint. Dieser Ausdruck war damals wenig üblich und blieb selten, bis er im 18. Jahrhundert als Ersatz für das verflachte "Poet" neu belebt wurde. Das spätmittelhochdeutsche Wort "tihtunge" (= "Diktat, Gedicht") wird erst neuhochdeutsch zur Bezeichnung der Dichtkunst und des dichterischen Werks.
Interpretation: Dichtung im heutigen Sinne ist als Teilgebiet der Literatur die höchste Kunstform der Sprache. In ihr verschmelzen die umgangssprachlich vorgegebenen Bedeutungsvorstellungen mit der Stimmungshaftigkeit und vielschichtigen Sinnfülle der Worte und Klänge zu letztgültiger, unauflöslicher Formeinheit und dienen der wesenhaften Erhellung und bildstarken Verdichtung tiefster existenzieller Zusammenhänge. Dies gelingt dem Dichter vor allem durch Symbolbildung, d. h. durch mehr oder weniger bewusst gestaltete Setzung von Sinnbildern innerhalb seines Werkes.
Das seit dem 15. Jahrhundert bezeugte Fremdwort "Symbol" ist aus Lateinisch "symbolum" und Griechisch "symbolon" (= "Kennzeichen, Zeichen") entlehnt bzw. übernommen. Das Grundwort hierzu ist das griechische Verb "sym-bállein" in der Bedeutung von "zusammenwerfen, vereinigen, verbinden, vergleichen, schließen, erraten". Es bezeichnet eigentlich ein zwischen Freunden oder Verwandten vereinbartes Erkennungszeichen, bestehend aus Bruchstücken (z. B. eines Ringes, einer Tafel oder einer Münze), die "zusammengefügt" ein Ganzes ergeben und dadurch die Verbundenheit ihrer Besitzer erweisen. Auf dichterischer Ebene ist das Symbol eine bildhafte Gestaltung, die durch ihre eindringliche Wirkung auf Gefühl und Phantasie Blicke in Tiefen mit einem großen Reichtum an Beziehungsvielfalt eröffnet. Im literarischen Kunstwerk erscheint es so als sinnlich gegebenes und fassbares, sinnträchtiges Zeichen, das über sich selbst hinaus auf einen höheren, abstrakten Bereich verweist. Dieses Sinn-Bild sucht als andeutender Ersatz für ein geheimnisvolles, undarstellbares und hinter der empirischen Erscheinungswelt liegendes Vorstellungsgebilde dessen weiten seelischen Gehalt im Bild zu erschließen, ohne ihn darin jemals ganz ausschöpfen zu können. Daher gibt es innerhalb eines poetischen Textes oft einzelne Elemente oder Partien, die der Realitätsebene und gleichzeitig der Sinngebungsebene angehören. Durch mehrere in einer Dichtung wirksame symbolische Handlungsfaktoren und Dingsymbole, die ihrerseits mehrfach auftauchen können, entsteht ein das Werk einerseits durchdringendes, andererseits überwölbendes Symbolgeflecht, das die Bedeutung, auf die es verweist, zugleich durch sich selbst repräsentiert. Diese Doppel- und Mehrdeutigkeit macht das Wesen des literarischen Symbols aus und entzieht es dem Zugriff begrifflich eindeutig festlegender Interpretation. Träger des Sinnbilds können einzelne Personen oder Gegenstände sein, die durch ihr Auftreten an hervorgehobener Stelle oder leitmotivische Wiederholung bedeutsam werden, aber auch die Sprache selbst, die durch ihre Bildkraft höhere Zusammenhänge durchscheinen lässt.
Die gehaltlichen Funktionen des Symbols wechseln mit dem Gestaltungsziel der Epochen: In Mittelalter und Barock steht es für Heilswahrheit und göttliche Weltordnung, in Sturm- und Drang, Klassik und Romantik für Kraft, Tiefe und Geheimnis sowie im modernen Symbolismus für Ichaussprache und persönliches Erleben. Ebenso ändert sich die Bezugsweite des Symbols von der eindeutigen Beziehung auf das Glaubensgeschehen im Mittelalter, über die vieldeutige Unsagbarkeit und Unendlichkeit im Idealismus bis zur Unverbindlichkeit des Bedeutungszusammenhangs im Symbolismus. Am Wendepunkt der Entwicklung von der christlichen Tradition zur profanen Moderne steht Goethe mit seiner Symbolauffassung. Bei ihm halten sich Bild und Gedanke noch die Waage. Das Sinnbild ist für ihn der völlige Zusammenfall eines besonderen Falles und einer allgemeinen Idee. Es dient ihm dazu, das Göttliche bzw. das durch die Natur Offenbarte auszudrücken und das scheinbar Zufällige ins Gültige zu erheben. Am Ende von "Faust II" ist "alles Vergängliche [...] nur ein Gleichnis". Goethe hält nicht nur die Kunst als Gesetz in der Erscheinung, sondern alle Dinge dieser Welt für symbolisch, weil das Ewige sich im Irdischen, in der kosmischen Ordnung sich die "Gott-Natur" darstellt. Seine "klassische" Symbolinterpretation beeinflusst noch heute die Diskussion über das literarische Sinnbild in den Geisteswissenschaften.
Im Bereich der Analytischen Psychologie hat sich C. G. Jung mit dem Thema der Literatur ausführlich in seinen beiden Aufsätzen "Über die Beziehungen der Analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk" von 1922 und "Psychologie und Dichtung" von 1930 beschäftigt. Zunächst geht er in der erstgenannten Schrift auf die "kausal-reduktive" Literaturinterpretation der Psychoanalyse ein. Sigmund Freud bezieht den Inhalt der Dichtung auf konflikthafte emotionale Erlebnisse der biographischen Vergangenheit des Autors und reduziert damit das Kunstwerk auf Kindheitstraumata des Dichters und daher auf Psychopathologie. Sein Ausgangspunkt ist das "persönliche Unbewusste", das nur aus Verdrängungen der Lebensgeschichte des Literaten besteht. Jung nennt Kunstwerke, die nur aus dieser Quelle stammen und sich in der Biographie und den neurotischen Symptomen des Schriftstellers erschöpfen, "symptomatische" Literatur. Für ihn hat quasi nicht-symptomatische Dichtung ihre Wurzeln im "kollektiven Unbewussten", das archaische, universelle Inhalte in sich trägt und sie dem Kunstwerk aus seiner Tiefe jenseits der individuellen Persönlichkeit des Autors mit ihrer spezifischen Problematik zukommen lässt.
Der tiefenpsychologische Verfechter einer "konstruktiven" oder "synthetischen" Literaturbetrachtung teilt kunstvoll gestaltete Dichtung, die für ihn allein aus dem "überpersönlichen" Unbewussten hervorquillt, noch einmal in "introvertierte" bzw."psychologische" Kunstwerke einerseits und in "extravertierte" bzw."visionäre" Dichtung andererseits auf. Erstere bewegen sich nach Jung innerhalb der Grenzen des alltäglichen Bewusstseins und sind dementsprechend allgemein verständlich; letztere gehen jedoch darüber in der Weise hinaus, als der konkrete Gehalt der "visionären" Texte nur Mittel zur Darstellung eines übergeordneten Inhalts ist und damit quasi symbolisch verstanden werden muss. Den Schöpferdrang des Künstlers, der alles Menschliche an sich reißt und in den Dienst des Werkes stellt, nennt Jung einen autonomen Komplex. Dieser führt als abgetrennte Teilseele im Unbewussten ein selbständiges, dem Bewusstsein entzogenes psychisches Leben und setzt das Ich zeitweise außer Kraft, um sich in dessen literarischen Produktionen schöpferisch Ausdruck zu verschaffen. Dahinter verbergen sich nach Auffassung der Analytischen Psychologie immer wieder spontan auftretende geistige Urbildformen, die im letzten Grunde die künstlerische Phantasie beherrschen und nur im gestalteten Stoffe als regulative Prinzipien seiner Gestaltung erscheinen: die sog. Archetypen des kollektiven Unbewussten. Diese urtümlichen Bilder wiederholen sich im Laufe der Geschichte da, wo sich die schöpferische Phantasie frei betätigt, und sind daher in erster Linie mythologische Figuren.
Jung zitiert auch in diesem Kontext einen Satz von Gerhard Hauptmann: "Dichten heißt, hinter den Worten das Urwort erklingen lassen." Hierzu passt eine historisch konkreter auf die Germanen bezogene Definition von Jacob Grimm, der die alte Dichtkunst als "ein heiliges, zu den Göttern unmittelbar in Bezug stehendes, mit Weissagung und Zauber zusammen hängendes Geschäft" bezeichnet. Ähnliches meint Jung, wenn er den Autor als "Seher" oder "Weisen" betrachtet, der archetypische Ausdrucksformen in seinem Werk nicht mit Absicht produziert, sondern nur "schaut". Der Dichter schafft dadurch Kunst, dass er in einem Akt der Ekstase Kontakt mit den bewusstseinstranszendenten Mächten des kollektiven Unbewussten hat und dies visionär artikuliert. Damit rückt er in die Nähe des schamanistischen, magischen "Sehers" und "Propheten". Nach "Über die Beziehungen der Analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk" spricht Jung in "Psychologie und Dichtung" von einem "Urerlebnis" oder einer "Urvision", die den Künstler mit den archaischen Tiefen der Kollektivseele verbindet, aus der er für sein Werk schöpft und deren dunkle Natur der mythologischen Gestalten bedarf, um sich darin auszudrücken. Durch seine Kunst ist der Dichter im tiefsten Sinne Instrument der Urvision, die ihn mit den heilsamen und erlösenden Schichten des Unbewussten in Kontakt gebracht hat. Sein Wiedereintauchen in den Urzustand der "participation mystique" ist das Geheimnis seines Kunstschaffens und dessen Wirkung.
Jungs Symbolbegriff geht über den literarischen Bereich hinaus und umfasst noch die psychologische, mythologische und religiöse Dimension. Zunächst einmal ist darunter ein vom Komplex oder Archetypus erzeugtes Bild zu verstehen, das teils bewussten, teils unbewussten Inhalt hat. Für Jung ist ein Symbol nur echt, wenn es einen noch unterschwelligen, nur geahnten, nicht eindeutig besser formulierbaren Sachverhalt meint. Es ist der bestmögliche Ausdruck für essentiell Unbekanntes. Solange es lebt und rational nicht ganz erklärt werden kann, bleibt es bedeutungsschwanger. Mythische Symbole besitzen eine lebenserzeugende Wirkung; sie sind faszinierend und stimulieren im Menschen eine kreative Vorstellungstätigkeit. Damit sprechen sie gleichermaßen zur Vernunft wie zum Gefühl und haben eine die seelischen Gegensätze vereinigende Funktion. Das Symbol ist für Jung ein heilendes, erlösendes Ereignis des Unbewussten. Seine Deutung sollte das Ziel haben, durch das Sinnbild den belebenden Kontakt mit den seelischen Tiefen wieder herzustellen oder zu intensivieren.
In den beiden Literaturschriften von 1922 und 1930 wird das Symbol zwar mehrfach sporadisch erwähnt, aber über die vereinzelten Äußerungen hinaus nicht näher erläutert oder genauer erklärt. Zweimal erscheint es hier im Unterschied zum Zeichen oder zur Allegorie, die beide auch ebenso gut durch einen bewusst formulierten Begriff ersetzt werden können. Einmal kritisiert Jung Freuds Ausdrucksweise, der in seiner Lehre von Symbolen spricht, aber eigentlich Zeichen oder Symptome meint. Oder an anderer Stelle ist "Faust" für ihn "nicht ein bloßer semiotischer Hinweis auf oder eine Allegorie für ein längst Bekanntes, sondern der Ausdruck eines urlebendig Wirkenden" und damit "ein Symbol".
Überhaupt geht Jung in seinen beiden Aufsätzen öfter auf Goethes Hauptwerk ein. Besonders "Faust II" ist für ihn ein gutes Beispiel für eine "extravertierte" bzw."visionäre" Dichtung. Hier zeichnet sich der Stoff durch hartnäckige Widersetzlichkeit aus, mit der sich der Autor im Kampf um die Gestaltung der Inhalte sehr lange intensiv auseinandersetzen musste. Im Menschen Goethe hat die Beziehung zur Mutter eine bedeutende Rolle gespielt und gerade im "Faust" vielsagende Spuren hinterlassen, was aber nicht heißen muss, dass aus dieser Bindung unbedingt das "große" Hauptwerk notwendigerweise hervorgegangen ist. Ein Abgrund trennt den ersten und den zweiten Teil des Dramas."Faust I" erweist sich als "introvertiertes" bzw."psychologisches" Kunstwerk. Die Liebestragödie um Gretchen erklärt sich selbst; ihr kann der Psychologe nichts beifügen, was der Dichter nicht schon besser gesagt hätte. Der zweite Teil des Dramas dagegen verlangt Deutungsarbeit; nichts mehr erklärt sich von selbst, sondern fortschreitend von Vers zu Vers wird das Interpretationsbedürfnis des Lesers herausgefordert."Faust" charakterisiert daher wohl am besten die beiden Extreme der Dichtung. Urvision tritt dem Betrachter im zweiten Teil des Werkes entgegen. Bei Goethe wird das persönliche Liebeserlebnis dem größeren Urerlebnis nicht nur bei-, sondern sogar untergeordnet. Das Drama berührt etwas in der Seele jedes Deutschen, dem der Dichter zur Geburt verhelfen musste. Nicht Goethe macht den "Faust", sondern die seelische Komponente "Faust" macht Goethe. Das Werk spielt auf etwas an, was in der deutschen Seele vibriert, das "urtümliche Bild" eines Arztes und Lehrers einerseits und eines düsteren Zauberers andererseits; den Archetyp einesteils des Weisen, Hilfreichen und Erlösenden, anderenteils des Magiers, Blenders, Verführers und Teufels. Auf höherer Stufe webt Goethe das Motiv "Gretchen – Helena – Mater Gloriosa – das Ewig-Weibliche" als einen roten Faden dem bunten Gewirke des "Faust" ein. Der Dichter schildert in seiner Tragödie den zur Göttergröße bedrohlich herangediehenen faustischen Menschen und versucht, die Unmenschlichkeit dieser Gestalt empfindend, diese mit dem Ewig-Weiblichen, der mütterlichen Sophia, zu einigen. Letztere erscheint als eine Höchstform der Anima, welche die heidnische Grausamkeit antiker Nymphenfiguren in der Literatur der Renaissance abgestreift hat.
Der Germanist Wilhelm Emrich weist in seinem Aufsatz "Symbolinterpretation und Mythenforschung" von 1953 bei der Darstellung von Deutungsproblemen im Zusammenhang mit Goethes Symbolsprache auf die Gefahren der Isolierung, der ungeschichtlichen Verallgemeinerung und der weltanschaulichen Uminterpretation hin. Dabei werden die Symbole verselbständigt aus dem dichterischen Gesamtwerk herausgelöst und als Sonderphänomene analysiert, dann unbedenklich mit archetypischen Traumsymbolen C. G. Jungs und mit Mythologemen Karl Kerényis gleichgesetzt und schließlich als irrationale, elementar lebensmächtige Gebilde bezeichnet, die sich jeder begrifflichen Erschließung entziehen. Beim bloßen Nachweis der Verwandtschaft von dichterischen und mythischen Symbolen entsteht eine leere, unhistorische Identität aller analogen Sinnbilder und damit eine geschichtslose Gleichsetzung von Vergangenem und Gegenwärtigem. Dieser Identifizierung macht sich nach Emrich auch die tiefenpsychologische Symbolforschung schuldig, indem sie zeitlose Symbole des kollektiven Unbewussten durch die ganze Geschichte hindurch analogisiert. Für den Literaturwissenschaftler sind die Sinnbilder von Goethes Spätwerk antinomisch gestaltet und tragen ihren eigenen Gegensatz bereits in sich: das Männliche und das Weibliche, das Unterirdische und das Überirdische, das Beharrende und das Revolutionierende, Natur und Kunst, das Gute und das Böse, das Lichte und das Dunkle, das Vernichtende und das Rettende. Die Symbole können jeweils nur in bezug auf die Stelle, an der sie in einer Dichtung stehen, sinnvoll gedeutet werden und haben keine von ihr losgelöste, ein- für allemal festgelegte Bedeutung an sich. Sie sind aus ganz spezifischen geistesgeschichtlichen Situationen und seelischen Konflikten Goethes erwachsen, durch die sie jeweils neuartige Umformungen und Veränderungen erfahren und sich entsprechend verwandeln. Nach Emrich treten die Sinnbilder nicht eigenständig aus dem Unbewussten der Goetheschen Seele hervor, sondern sind weitverbreitetes Bildungsgut seiner Zeit. Außerdem enthüllen sie im Werk die innersten antinomischen Strukturen des Daseins selbst. Der symbolische Sinn von Goethes Dichtungen ist nur durch wechselseitige Spiegelung aller ihrer Teile zu erschließen, und das in sich vielschichtige, mehrdeutige Sinnbild selbst muss von immer neuen Seiten umkreist und in kontrastierenden Bezügen differenziert entfaltet werden.
Literatur: Standard
Autor: Schröder, Friedrich