Vier: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:52 Uhr

Keyword: Vier

Links: Archetyp, Bewusstsein, Kreuz, Quadrat, Quaternität, Typologie, Zahl

Definition: -

Information: C. G. Jung hat in seinem Leben viel über die Vier geforscht. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung mit Träumen von Menschen aus aller Welt sowie seiner reichen Kenntnis der Mythologie aller Völker ist er zum Schluss gekommen, dass die Vier ein Archetyp, eine dem Menschen angeborene Vorstellung sein müsse, welche die Idee von Vollständigkeit darstelle. Der Archetyp der Vier prägt nach Jung auch die Struktur des Bewusstseins mit den vier Grundfunktionen, die zusammen ein einigermaßen vollständiges Bild von der Wirklichkeit ermöglichen:

1. Die Wahrnehmung, der geerdete Realitätssinn: „Was liegt vor?"

2. Das gefühlsmäßige Werturteil: „Berührt mich das angenehm oder nicht?"

3. Das ordnende Denken: „Was ist daraus zu schließen?"

4. Die Intuition: „Was steckt dahinter, was lässt sich damit projektieren?"

Wenn die 1. Grundfunktion vorherrscht, ist der betreffende Mensch Typ 1. etc. Oft sind die Typen nicht einseitig ausgeprägt, sondern eher ausgeglichen. Im Verlauf der persönlichen Reifung und Entwicklung sollte das Bewusstsein auf möglichst alle vier Funktionen ausgedehnt werden.

Die vier Typen sind:

1. der realistische Wahrnehmungstyp,

2. der emotionale Fühltyp,

3. der kühle Denktyp,

4. der intuitive Typ, der utopisch um die Ecke sieht.

Zum Archetyp der Vier führt Jung aus:

„Es ist, wie wenn in der menschlichen Psyche von Anfang an ein vorbewusster, präexistenter, vierfacher Grundriss, eine Art von pythagoreischer Tetraktys, vorläge. Die Vierzahl in diesem Zusammenhang habe ich überaus häufig beobachtet. Wahrscheinlich erklärt sich daraus die universelle Verbreitung und magische Bedeutung des Kreuzes und des viergeteilten Kreises. (…) Wenn man diesen Tatbestand im Ganzen überblickt, kommt man meines Erachtens zum unvermeidlichen Schluss, dass die Vierheit ein angeborenes psychisches Element ist. Um zu diesem Schluss zu kommen, bedarf es weder kühner Spekulation noch ausschweifender Phantasie. Diese Schlussfolgerung geschah in sorgfältiger Abwägung der empirischen wie der historischen Daten. (…) Der Vorstellung von vier Jahreszeiten, vier Himmelsrichtungen und vier Elementen liegt ein quaternarisches psychisches Orientierungssystem zugrunde. Dieses drückt stets eine Ganzheit aus. (…) Die Quaternität ist eine archetypische psychische Ordnung. Darum kommt sie überall vor. Sie ist die Voraussetzung für jedes ganzheitliche Urteil. Wenn man ein umfassendes Urteil fällen will, muss dieses einen vierfachen Aspekt haben. Wenn man z. B. die Ganzheit des Horizontes bezeichnen will, nennt man alle vier Himmelsrichtungen. (…) Darum sind es immer vier: Vier Elemente, vier Temperamente, vier primitive Qualitäten, vier Farben, vier Kardinaltugenden, vier Kasten in Indien, vier Wege der geistigen Entwicklung im Buddhismus etc…" (zit. Beit, H. v. (1975), Bd. I, S. 339f. ).

Der Archetyp der Vier prägt auch den Städtebau:

Städte haben Viertel (Quartiere). Rom, Nabel der Welt, heißt im Altertum offiziell: „Roma quadrata." Die mittelalterliche Universität hat vier Fakultäten:

1. Die artistisch-philosophische,

2. die theologische,

3. die juristische und

4. die medizinische.

Die Krone des Studiums ist die Theologie. Wer als gelehrt (doctus) gelten oder selber Dozent (doctor) werden will, studiert an allen vier Fakultäten, wie Goethes „Faust". Dieser wird jedoch nicht durch das akademische Studium, sondern durch den „Abstieg zu den Müttern" des wirklichen Lebens ansichtig.

Im Zeichen der Vollständigkeit handeln auch die katholischen Innerschweizer 1531 nach der zweiten Schlacht bei Kappel: Nachdem das reformierte Zürich geschlagen und Zwingli, tapfer kämpfend, auf dem Schlachtfeld gefallen ist, wird der Erzketzer gevierteilt. Jetzt ist sicher, dass der Ausbund des Teufels vollständig erledigt ist!

Erfreulicheres zur Vier zeigt der biblische Schöpfungsmythos: Im Paradies fließen vier Ströme in die vier Himmelsrichtungen. Sie entsprechen den vier Armen des Kreuzes und sind ein Symbol für Vollständigkeit. Wer die Arme erhebt, wird kreuzgestaltig. Maximus von Turin (um 400) sagt: „Wenn der Mensch seine Arme erhebt, wird er ein Kreuz; darum sollen wir mit ausgespannten Armen beten." Das Kreuz ist auch das Siegeszeichen des Menschensohnes, der auf den Wolken des Himmels zum Jüngsten Gericht erscheinen wird (Matth. 24, 30). Das Kreuz ist in der Antike ein Symbol des Weltenbaums. Hippolyt, Bischof von Rom, sagt dazu (kurz nach 200): „Das Kreuz ist ein himmelsweiter Baum, ein unsterbliches Gewächs, das von der Erde zum Himmel emporragt. Es ist der feste Stützpunkt des Alls, der Ruhepunkt aller Dinge, die Grundlage des Weltenrunds, der kosmische Angelpunkt. Es fasst in sich zur Einheit zusammen die ganze Vielgestalt der menschlichen Natur. Es rührt an die höchsten Spitzen des Himmels und festigt mit seinen Wurzeln die Erde, und die weite mittlere Atmosphäre umfasst es mit seinen unermesslichen Armen." Auf alten Bildern erscheint Christus als Mitte des Kreuzes, umgeben von den vier Evangelisten, die aus ihm hervorgehen wie die vier Ströme des Paradieses aus dem göttlichen Quellgrund, ihrer Quintessenz.

Interpretation: „Es war ein armer Mann, der hatte vier Söhne." Mit diesen Worten beginnt das Märchen von den „vier kunstreichen Brüdern" (Grimm Nr. 129). Um seiner Armut abzuhelfen, schickt der Vater seine vier Söhne in die Welt hinaus. Diese verteilen sich in alle vier Himmelsrichtungen, und jeder von ihnen lernt eine spezielle Kunst. Wie sie sich nach vier Jahren wieder treffen, stellen sie fest, dass sie zu viert allen Herausforderungen des Lebens gewachsen sind. Schließlich lernen sie noch, untereinander Frieden zu halten; daraufhin erhält jeder ein halbes Königreich. In diesem Märchen wird die Eins in die Vier ausdifferenziert. Es geht um vierfältige, umfassende Bewusstwerdung. Die Söhne symbolisieren die vier Funktionen des Bewusstseins. Im Vater erscheint die vorerst noch unbewusste Gesamtpersönlichkeit, das Selbst, welches die vier Bewusstseinsfunktionen, seine jüngeren Söhne, in die Welt schickt, um durch sie bewusst zu werden. Das Thema des Märchens ist demnach die Bewusstwerdung. Dank der Entfaltung der vier Jungen (des phylogenetisch jungen Bewusstseins) wird der Alte (das uralte, unbewusst funktionierende Selbst) vor Verarmung bewahrt. Bewusstheit krönt das Leben.

Am Anfang des Individuationsprozesses steht die Eins (der Alte): unbewusst gelebtes Leben. Im Verlaufe der Reifung wird dieses in die Vier (die Jungen) entfaltet und dabei bewusst. Der Jüngste ist im Märchen in der Regel minderwertig. Doch gerade er erhält den kostbaren Schatz; denn die Nachreifung der minderwertigen Funktion bildet ja den krönenden Abschluss umfassender Selbstfindung. Dafür steht die Fünf. Weisheit ist die „quinta essentia" (das fünfte Element), die bewusst gewordene Eins bzw. der in den Söhnen reich werdende Vater.

Literatur: Standard

Autor: Kaufmann, Rolf