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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:51 Uhr
Keyword: Stadt
Links: Anima, Anthropos, Bewusstsein, Burg, Haus, Identität, Individuation, Mandala, Platz, Selbst, Temenos, Zentrum
Definition: Stadt (althochdt: stat "Ort, Stelle") ist eine Siedlung, die eine größere Zahl von nicht landwirtschaftlich beschäftigten Menschen auf engem Raum beherbergt.
Information: Die ältesten Städte waren von starken Mauern umgeben, die aus gebrannten Tonziegeln bestanden. Sie entstanden ab dem 9. Jahrtausend v. Ch. im Vorderen Orient (Jericho). Die Stadt Ur enthält die städtebaulichen Merkmale, die heute noch gemeinsam den Begriff Stadt definieren: Neben einer gewissen Größe hat sie ein politisch-religiöses Zentrum (temenos, unus mundus) mit Tempel und Palast als Zeichen der sozialen Differenzierung, einen Hafen und Marktplatz als Zentrum für Handel und Verkehr und die Stadtmauer als Signal von Einwohnerdichte und geschlossener Ortsform. Zentrale Funktionen für sekundäre Produktion, Handel, Kultur, Religion, Verkehr und Verwaltung heben die Stadt vom Umland ab, auf das sie zur Nahrungsmittelproduktion angewiesen ist und das ihr zuliefert. Hierin liegt der Stadt-Land-Gegensatz ebenso begründet, wie der Kultur-Natur-Gegensatz darin erscheint.
Das Denken in Gegensätzen ist in der Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins wohl älter, als die ersten Städte. Es geht aber mit der Entstehung von Städten ein nächster Entwicklungsschritt einher: Priester oder Könige heben sich als Herrscher der ältesten Stadt in ihrer sozial differenzierten (beruflichen) Funktion als Individuum vom Kollektiv ab und bleiben zugleich Repräsentanten dieses Kollektivs. Demgegenüber breitet sich das individuell ausgeprägte Ich vieler oder aller Subjekte erst später in der Geschichte aus. So kommt es, dass die Stadt in ihren vielen symbolischen Bedeutungen sowohl für das Individuum, als auch für das Kollektiv stehen kann.
Interpretation: Stadt als Symbol für das Individuum meint zunächst den Schutz, den der Einzelne in ihren Mauern finden kann. Städte geben Geborgenheit in Analogie zur Haut um unseren Körper, zur Wohnung, zum Haus. Am Ort der Sicherheit werden Vitalbedürfnisse gewährleistet wie bei der Mutter. Das Leben in der Stadt verlangt ebenfalls Anpassung an die jeweiligen Kulturnormen und manchmal schmerzhafte Ablösung davon.
Die befestigte Stadt repräsentiert, wie die Burg, die psychische Kraft einer Person, ihre Stand- und Wehrhaftigkeit, ihre Ich-Stärke, wobei die Stadt-Mauer für die Ich-Grenze steht. So ist die Stadt eine nicht leicht zu erschütternde Macht, eine in sich geschlossene Ganzheit, die Jahrhunderte überdauert. Dennoch ist durch die Tore jede Stadt fortwährend in regem Austausch mit dem Umland, wie auch jedes Individuum in Beziehungen und Austausch zur Umwelt steht. Die Stadt repräsentiert demnach das seelische Gleichgewicht zwischen Festigkeit und Flexibilität, das allen lebenden Organismen eigen ist. Wie die Stadt ihr Umland beherrscht und zentrale Funktionen übernimmt, steht das Ich im Zentrum des Bewusstseinsfeldes und stiftet Identität und Kontinuität. Stadt und Person haben jeweils ihre besondere Individualität als einzigartige Gruppierung und Kombination von Merkmalen. Beim Menschen sind es genetische, sowie tradierte kulturelle, seelische und familiäre Elemente des Erbes, die seine Individualität zunächst begründen.
Bei der Stadt sind es so stabile Elemente wie geographische Lage, Klima, historisch-politisch-kulturelle und religiöse Prägungen, spezielle Gebäude und Funktionen, prägende Persönlichkeiten, Industrien oder Künste der Landschaft, die zusammen die Individualität der Stadt, des Stadt-Körpers und ihrer Atmosphäre bestimmen. Städte und Menschen passen auch zusammen oder nicht. In einer Stadt fühlen wir uns wohl, sie gefällt uns, eine andere lehnen wir ab. Erst ihre Individualität macht die Stadt zur Heimat.
C. G. Jung beschreibt das Unbewusste des Mannes als weiblich und nennt es Anima. Er verwendet das Bild der Frau im Sinne des ganz Anderen, des Fremden, Unheimlichen, Unbekannten. Wie Mythen vielfach belegen, werden Städte generell als weiblich empfunden und vom männlichen Aspekt erobert oder besetzt (Oedipus, Antigone). Oft ist der Name der Stadt identisch mit dem der Gemahlin des Herrschers. Städte können alle Aspekte des Weiblichen übernehmen: Verführerin, Hure (Babylon), Göttin, Mutter, Hexe, Besiegte, Gattin, Jungfrau (Himmlisches Jerusalem als Braut). An den Mythen fällt auf, dass die ungezähmte, wilde Natur des Weiblichen entweder abgewertet wird (Hure Babylon) oder aus der Stadt hinaus verbannt wird (in Antigone). Dadurch verbleibt in der Stadt nur der gezähmte weibliche Aspekt, die eingemauerte Natur, die dann eben Braut, Jungfrau, Gattin und Mutter ist. Insofern die Anima das Fremde, den Ort der Sehnsucht verkörpert, werden auch ferne Städte als Bild des Exotischen oder der Erinnerung zum Ort der Sehnsucht. Dabei wird das ersehnte Andere zum Antrieb für Selbstsuche, Selbstreflexion und Individuation.
Der ersehnte ferne Ort im Sinne des Unbewussten und des unbekannten Selbst schließt Uneindeutiges, Unbewältigtes, Wildes mit ein, so dass die weibliche Stadt einerseits Symbol der Verführung und des drohenden Selbstverlusts wird, andererseits zum Symbol der möglichen Selbstfindung (Weigel). Die so verstandene Begegnung mit dem Symbol der weiblichen Stadt führt das männliche Bewusstsein (von Männern und Frauen) zu einer spannenden Herausforderung, Auseinandersetzung und Bewusstwerdung.
Städte sind ein mit allen Sinnen wahrzunehmender lebendiger Ausdruck menschlicher Gesellschaft und drücken in der Formensprache der Architektur viel über Werte und Gefühle ihrer Erbauer und Bewohner aus. Es ist offensichtlich, dass niemals ein einzelner Mensch eine Stadt bauen kann. Die Stadt ist immer durch das Zusammenwirken und -leben einer Vielzahl von Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden. Daher ist Stadt zugleich ein Symbol für Kollektives. Begegnung und Gemeinschaft einander fremder Menschen gehören implizit zum Begriff der Stadt, wobei mit den Begegnungen zugleich persönliche Auseinandersetzungen und geistige Herausforderungen gegeben sind. Städte sind daher immer "modern", sind Brennpunkte der geistigen, technischen und kulturellen Entwicklung. Sie verkörpern Urbanität, Weltoffenheit, Toleranz und Lebensfülle. Sie sind Maßstäbe für demokratische Freiheit, für Wohlstand, vielfältige Aktivitäten und für individuelle Selbstgestaltung. Insofern in der Stadt die Blüte oder der Verfall der jeweiligen Kultur vertreten ist, geschieht hier Bewusstseinsentwicklung. Eben das ist gemeint, wenn C. G. Jung Zitate zusammenträgt, nach denen die Metropolis (Mutterstadt) Wohnort des Anthropos ist, des Menschen an sich, der eine Verkörperung des kollektiven Selbst ist. Letzteres enthält im Symbol der Stadt auch negative Anteile. Gerade in den modernen Metropolen lassen sich die negativen Aspekte städtischen Lebens krass erleben: die nicht einzudämmende Überbevölkerung, die jede städtische Infrastruktur ad absurdum führt; die Umweltzerstörung, die neben anderen Bedrohungen das Leben auf der Erde insgesamt in Frage stellt; Lärm, Hektik, Gestank, Überfluss, Unübersichtlichkeit, Anonymität, Verarmung, Hunger, Kriminalität, alles kulminiert in den modernen Großstädten. Immer schon war die Stadt auch Wohnort des "Stadtneurotikers" und Symbol des Kulturpessimismus.
Die Hieroglyphe für Stadt ist ein Kreuz im Kreis. Das ist zugleich ein Mandala. Jung hat seinen Begriff des Selbst zwar an Hand des Mandalas beschrieben, aufgeleuchtet hat ihm im persönlichen Erleben der Begriff des Selbst an Hand eines Traumes über die Stadt. Der Archetyp des Selbst konfrontiert den Menschen mit der abgründigen Gegensätzlichkeit seiner Natur (GW 12, § 23), er ist die Summe aller Polaritäten und Paradoxien. In der Alchemie stehen der Kreis für das alchemistische Gefäß, das vas hermeticum, und das Kreuz für die vier nicht reduzierbaren Elemente. Im Gefäß geschieht die Verwandlung, der Differenzierungsprozess der Individuation. Die Stadt veranschaulicht symbolisch alle Polaritäten und auch den Ort der Wandlung. Tatsächlich sind viele Städte historisch mit verschiedenen Siedlungsschichten belegt (Troja). An ihnen kann der Wandel der Kulturen, können wiederkehrende Zerstörung, Verfall, Untergang und Neugründung erlebt werden.
Literatur: Standard, Friedemann (1993)
Autor: Friedemann, Monika