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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:51 Uhr

Keyword: Fluss

Links: Bewegung, Meer, Quelle, Wasser

Definition: Der Fluss oder Strom, fließendes Gewässer des Festlandes, steht in enger Verbindung mit der Symbolik des Wassers. In Zusammenhang mit der polaren Symbolik des Bios- Prinzips ermöglicht er einerseits der Erde und dem Land Fruchtbarkeit und Gedeihen, andererseits kann er aber auch durch große Überschwemmungen verschlingen, zerstören und töten.

Information: An den großen Flüssen (wie z. B. Ganges, Indus, Euphrat-Tigris, Nil und Hoangho) entstanden um 3000 v. Chr. die großen Kulturen der Alten Welt. Als Vegetation und Wachstum ermöglichende Kräfte wurden Ganges und Nil religiös verehrt, Hapi, der alte Gott des Nils wurde ithyphalisch dargestellt. Bei den Griechen und Römern galten Flüsse als Manifestationen männlicher Gottheiten. Mit der Göttlichkeit des Flusses hängt es auch zusammen, dass für den Bau einer Brücke rituelle Kenntnisse erforderlich waren. Bei Versiegen des Flusswassers opferte man noch im Mittelalter den Flüssen. Wer durch Überqueren den geheiligten Bereich des Flussgottes verletzte, musste Versöhnungsopfer erbringen: Xerxes ließ vor der Überschreitung dem Fluss Strymon Pferde opfern, Caesar dem Rubico. Weitere Opfertiere waren Stiere und Widder. Achill opferte dem Fluss Spercheios seine Haare - vielleicht als abgeschwächte Erinnerung an frühe Menschenopfer, wie auch die Versenkung der Strohpuppen in den Tiber und Versenkung einer Adonispuppe in den Nil verstanden wurden.

In Altchina wurde der Zähmung der Flussgötter durch den mythischen Urkaiser Yü große Bedeutung beigemessen. Flüsse waren seit frühester Zeit natürliche Reisewege (Reise), galten als pulsierende Lebensadern, die von jeher mit der Sehnsucht nach Veränderung, dem Unterwegssein und der Ferne in Verbindung gebracht wurden.

Interpretation: Wegen des Fließens Symbol für Zeit und Vergänglichkeit, aber auch für ständige Erneuerung. Der Zusammenfluss aller Flüsse ins Meer galt als Symbol der Vereinigung und des Absolutem, z. B. im Buddhismus und Hinduismus als Symbol des Aufgehens im Nirwana. Die Vorstellung von vier Paradiesflüssen, die in die vier Himmelsrichtungen fließen und so das horizontale Kreuz der irdischen Welt bilden, bestand u. a. im Judentum, Christentum und Hinduismus. Sie entspringen aus einer Quelle, Fontäne oder einem Brunnen am Fuße des Lebensbaumes bzw. aus einem Felsen darunter.

Sie symbolisieren die Schöpferkraft und bringen geistige Kraft und Nahrung. Will man Erleuchtung erlangen, so muss der Fluss des Lebens bis zurück an seine Quelle verfolgt werden. Da jeder Fluss gleichzeitig eine von einem Gott gehütete Grenze ist, kann seine Überschreitung mit Todesgefahr verbunden sein, der Fluss zum Todesfluss werden. Die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits wurde in verschiedenen Religionen durch einen Fluss vorgestellt.

In der griechischen Mythologie rudert der Fährmann Charon die Toten mit seinem Kahn über die drei Grenzflüsse Acheron, Kokytos und Styx bis zum Eingang des Totenreiches. Das Baden und Untertauchen in einem heiligen Fluss verleiht rituelle, entsühnende Reinigung (z. B. Bad im Ganges).

"Man steigt nur einmal in den gleichen Fluss" meint die ständige Veränderung des Lebensflusses wie auch das Verrinnen der Zeit."Gegen den Strom schwimmen" meint mit großer Anstrengung der Strömung entgegenstreben, versinnbildlich jemand, der sich bewusst anders verhält als die Masse und unter Umständen auch Nachteile in Kauf nimmt. In der altchinesischen Philosophie wird das Tao mit dem Fluss verglichen und bedeutet, mit seinem Gefühl und dem Lebensstrom "im Fluss" zu sein. Flüsse hatten seit frühester Zeit für die daran lebende Staaten identitätsstiftende Funktion. So wurden angrenzende Länder oder Städte häufig nach dem Flüssen benannt (z. B. Rheinland-Pfalz, Donaueschingen). Gerne werden bei Filmtiteln der Begriff "Fluss" verwandt: z. B."Fluss ohne Wiederkehr", "Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss", "Die Brücken am Fluss", "Aus der Mitte entspringt ein Fluss", "Das Haus am Fluss" oder "Fluss der Zeit", u. a. in Assoziation mit dem Bild der pulsierenden Lebensader oder mit dem "ewigen" ruhigen Dahinfließen und Strömen des Lebens. Nachdem Flüsse in der Industriegesellschaft Jahrzehnte lang als Abwässerkanäle und zur Ableitung von Giftstoffen benutzt wurden, denkt man heute in Landschafts- und Städte planerischer Hinsicht wieder an Grüngürtel entlang den Fluss ufern auch in Ballungsgebieten und versucht, diese wieder für die Freizeitgestaltung zugänglich zu machen. (Vergl. Stuttgarter Zeitung u. a. vom 10. 04. 04 "Die Vision Grünzug Neckar".

Flüsse als fließende Gewässer gehören zur Symbolik des Wassers und im weitesten Sinne zum Bereich des Bios-Prinzips mit seiner polaren Bedeutung, einerseits als Fruchtbarkeit und Wachstum ermöglichender Aspekt, andererseits jedoch auch als Leben vernichtender, verschlingender Aspekt. Der Fluss steht für den "Strom des Lebens" und ist so Gleichnis des Lebens, verkörpert einerseits als Energiesymbol des strömenden Wassers die Libido, den Fluss der psychischen Energie des Menschen im Sinne C. G. Jungs (Libido, Progression, Regression), somit die Selbstregulation der Psyche und ständige Erneuerung, anderseits "im Fluss der Zeit", im Aspekt des Fließens die zeitliche Dimension der Vergänglichkeit des Lebens. Auf Flüss kann man in Träumen auf seiner Lebensreise in die ersehnte Ferne getragen werden. Fließendes Wasser ist auch Symbol des Unbewussten. Fließen bedeutet aber auch, sich treiben zu lassen, nicht alles kontrollieren zu wollen oder auch den Wunsch danach. Wo ein solcher Strom in Träumen durch die Seelenlandschaft fließt, da ist auch ein Strom großer unbewusster Kräfte vorhanden, oft vom Bewusstsein noch nicht genutzt. Die "Rückkehr zum Ursprung", die durch den zur Quelle zurückströmenden Fluss versinnbildlicht wird, ist das Zurückkehren zum ursprünglichen, paradiesischen Zustand. Die Flussmündung hingegen hat teil an der Symbolik der Tür bzw. des Tores, denn auch sie verschafft den Zugang zu einem anderen Reich, zum Ozean der Einheit. Flussübergänge oder Überquerungen von einem Ufer zum anderen sind Traumsymbole in typischen Wandlungsphasen wie der Pubertät oder dem Klimakterium, stehen gelegentlich auch mit der Todessymbolik in Verbindung. Ausufernde, reißende Fluss e, wie auch das Schwimmen in verschmutzten, vergifteten Flüssen, die im Traum als Hindernisse auf der Lebensreise bewältigt werden müssen, weisen auf innere Konflikte und anstehende zu bewältigende seelische Aufgaben des Träumers hin.

Gerade weil die tatsächliche Erfahrung des Schwimmens in Flüssen aufgrund der Umweltbelastung und -verschmutzung nur noch selten möglich ist, stellen Träume, in denen im fließenden Gewässer geschwommen wird, eine beglückende, belebende und regenerierende Erfahrung dar. Eine Frau träumt: "Ich schwimme angstfrei in einem großen Fluss stromabwärts. Ich muss mich nicht besonders anstrengen und werde lustvoll vom Wasser getragen. Vor mir öffnet sich der Fluss zu einem breiten Becken, was natürlich begrünt angelegt ist. Hier baden viele Menschen und ich weiß, dass das Wasser hier wärmer ist und heilende Wirkung hat. Ich lasse es mir einfach gut gehen und ruhe im Heilwasser aus".

Der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi beschreibt aufgrund seiner Untersuchungen zum Erleben von Glück, Kreativität und religiösen Erfahrungen das Phänomen des "Flow" (engl.: Fließen). Dies bezeichnet das Gefühl scheinbar mühelos fließender Bewegung, das man erleben kann, wenn man ganz in einer schöpferischen Handlung aufgeht. Unter bestimmten günstigen Bedingungen werden Handeln und Bewusstsein eins. Das Ich-Bewusstsein verschwindet, man ist nur noch mit allen Sinnen und allen Gedanken auf die Handlung und das Ziel ausgerichtet. Man ist so in die Tätigkeit vertieft, dass sie spontan und fast wie von selbst verläuft. Hohe Konzentration, Sammlung und Selbstversunkenheit verbinden sich mit Engagement, Freude und beglückendem Erfolgserleben. Es ist eine Versunkenheit in das eigene Tun, obwohl es mit hohem Energieeinsatz und hoher Leistung verbunden sein kann. Die Zeitwahrnehmung ist verändert. Es entsteht oft ein Erleben von Zeitlosigkeit, Ewigkeit, Gegenwärtigkeit oder auch der Eindruck des sehr schnellen Verstreichens der Zeit mit dem nachfolgenden Bedauern, dass es schon wieder vorbei ist. Die üblichen Grenzen des Selbsterlebens können dabei erweitert und ausgedehnt sein bis zu einem Erleben von Einheit und Verschmelzung mit der Situation, der Umwelt, den Mitmenschen zu einem großen, gemeinsamen Organismus (Einheitswirklichkeit). Die mit dem Flow-Erleben verbundenen Einstellungen habe eine nahe Beziehung zu dem, was Jung als Geschehen-Lassen bezeichnet, was bedeutet, sich in einem schöpferischen Prozess von der sich selbst regulierenden Dynamik des Selbst bestimmen zu lassen."Man muss geschehen lassen können. Ich habe vom Osten gelernt, was er mit Wu Wei ausdrückt, nämlich, das Nicht-Tun (nicht Nichtstun), das Lassen. Auch andere haben das erkannt, so Meister Eckhart, wenn er davon spricht, sich zu lassen. Die dunkle Stelle, an die man anstößt, ist ja nicht leer, sondern die spendende Mutter, die Bilder und der Same. Wenn die Oberfläche abgeräumt ist, kann es aus der Tiefe wachsen." (Jung, Jacobi, 1971, S. 319)

Auch das Ziel der Individuation wird von Jung wie von anderen Psychologen nicht als eine statischer Zustand beschrieben, sondern als eine Bereitschaft, sich einem fortwährenden wandelnden lebendigen Prozess zu öffnen und anzuvertrauen."Die Wirkung, auf die ich hinziele, ist die Hervorbringung eines seelischen Zustandes, in welchem mein Patient anfängt, mit seinem Wesen zu experimentieren, wo nichts mehr für immer gegeben und hoffnungslos versteinert ist, eines Zustandes der Flüssigkeit, der Veränderung und des Werdens." (Jung, GW 16, § 99)

Eine der schönsten literarischen Gestaltungen des Themas findet sich in Hermann Hesses "Siddhartha", in der Siddhartha vieles vom Fluss lernt: Indem er meditativ in den von sich hin strömenden Fluss schaut, lauscht, nimmt der Bilder wahr, die seinem eigenen Inneren entsteigen: "Das Bild des Vaters, sein eigenes Bild, das Bild des Sohnes flossen ineinander, auch Kamalas Bild erschien und zerfloß, und das Bild Govindas, und andre Bilder, und flossen ineinander über, wurden alle zum Fluß, strebten alle als Fluss dem Ziele zu, sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses Stimme klang voll Sehnsucht, voll von brennendem Weh, voll von unstillbarem Verlangen. Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha sah ihn eilen, den Fluss, der aus ihm und den seinen und aus allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der Stromschnelle, dem Meere, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Regen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward Bach, ward Fluß, strebte aufs Neue, floß aufs Neue. Aber die sehnliche Stimme hatte sich verändert. Noch tönte sie, leidvoll, suchend, aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr, Stimmen der Freude und des Leides, gute und böse Stimmen, lachende und trauernde, hundert Stimmen, tausend Stimmen." (Hesse, S. 108)

Schließlich hat Siddhartha das meditative Lauschen vollendet gelernt. In den Wellen des Flusses schaut er die Vielheit der psychischen Erscheinungen, die konstante Dauer im Wechsel der inneren Bilderflut, die Unsterblichkeit und Zeitlosigkeit der seelischen Tiefenschichten, sowie die Einheit in der Vielfalt der strömenden Anteile des Unbewussten.

"Schon konnte er die vielen Stimmen nicht mehr unterscheiden, nicht frohe von weinenden, nicht kindliche von männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der Sehnsucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Stöhnen der Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluss, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß OM: die Vollendung." (Hesse, S. 108 f.)

Literatur: Standard

Autor: Kuptz-Klimpel, Annette