Tochter: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 19. Oktober 2023, 16:52 Uhr
Keyword: Tochter
Links: Kind, Mädchen, Mutter, Vater
Definition: Etymologisch stammt das Wort "Tochter" aus einer indogermanischen Wurzel. Es bezeichnet ein leibliches weibliches Kind, wird aber auch im übertragenen und mythischen Sinne gebraucht. Tochter des Windes, Tochter der Sonne, Tochter des Wassers, Tochter der Weisheit meint ein weibliches Wesen, das mit seiner Herkunft so gut wie identisch oder dessen Ausdruck ist.
Information: Die Frauenbewegung hat in den letzten Jahrzehnten den Töchtern überhaupt zum ersten Mal Aufmerksamkeit zugewendet, dabei aber zum größten Teil Erschreckendes zutage gefördert. Das reicht von der vielfachen Tötung neugeborener Töchter in Asien bis zur - besonders in Ostafrika - weit verbreiteten Klitorisbeschneidung der Töchter, von der in armen Gegenden üblichen Nutzung der Tochter als Prostituierte, um die Familie zu ernähren (Sextourismus, Aidsausbreitung), bis zum noch zunehmenden Mädchenhandel zur Prostitution oder der Zwangsadoption und Sterilisierung von Töchtern zur Ausrottung ganzer Völker und Rassen. Das geht von der Ausbeutung der Töchter als Arbeitskraft bis zu ihrer Rekrutierung als Kindersoldaten und ihrer Vergewaltigung in allen Kriegen.
Aber auch in sogenannten zivilisierten Ländern ist das Ausmaß der Leiden von Töchtern groß. Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch innerhalb der Familien sind weit verbreitet. Wo solche extremen Auswüchse nicht zu beobachten sind, sind doch zahllose Berichte erwachsener Frauen publiziert worden, die von ihren Müttern oder Vätern nachhaltig psychisch geschädigt worden sind. Angesichts dieser Tatsachen aus Geschichte und Gegenwart könnte man die Tochter geradezu zum Symbol des Leidens von Kindern, Frauen, unterdrückten Rassen und Ethnien unter zahllosen Formen der Gewalt und der kulturellen Missbrauchs erklären.
Die jüngere Forschung sagt andererseits, dass Töchter vitaler sind als Söhne und auch unter ungünstigen sozialen Bedingungen heranwachsen. Sie sind sprachbegabt, anpassungsfähig und von Kind auf bereit und fähig, für andere Verantwortung zu übernehmen.
Interpretation: Je nach Kultur und Wert des Weiblichen hat die Tochter als verjüngte Erscheinung ihrer Mutter einen hohen Rang, bestätigt und erhöht deren Macht und Fähigkeiten (Demeter und Kore) oder sie gilt, wo das Weibliche entwertet ist, als Last und Unglück, weil sie nur ein Mädchen anstelle des erwarteten Sohnes ist.
Ausdruck für die Ablösung der Bedeutung des Weiblichen ist der Mythos von der Göttin Athene, die nicht von einer Mutter geboren, sondern schon erwachsen dem Haupt des Zeus entsprungen ist.
In Märchen von jungen Helden spielt die Königstochter eine Rolle als Repräsentantin von Land und Königtum, das der Held durch seine Taten zu gewinnen hat. Nicht selten muss er sie aus der Höhle eines Drachen oder anderen Ungeheuers befreien. Mit der Hand der Königstochter erwirbt er den Thron. Darin spiegelt sich die patriarchale und feudale Rechtslage, nach der nur ein Mann König werden kann, aber wohl auch die Erinnerung an matrizentrische Epochen, in denen die Tochter Erbin der Mutter war und als Priesterin und Königin sich einen Helden zum Gemahl erwählte und ihm damit auch einen Platz auf dem Thron gewährte.
Für Mütter spielt die Tochter eine ambivalente Bedeutung. Einerseits sieht sie in ihr die Bestätigung ihrer eigenen Weiblichkeit, ihr Spiegelbild und die Fortdauer des Lebens. Sie wird sie lange in Abhängigkeit behalten wollen (vgl. z. B. Märchen Rapunzel). Auf der anderen Seite kann sie auf die Tochter auch ihre eigene Selbstablehnung übertragen und versuchen, sie am Leben zu hindern (vgl. Märchen Aschenputtel) und wird, wenn sie heranwächst, schmerzlich an ihr eigenes Altwerden erinnert (vgl. Märchen Schneewittchen). Zahlreiche Märchen erzählen davon, dass eine Mutter ihre Töchter sehr gegensätzlich behandeln kann. Die eine wird geliebt, die andere abgelehnt (vgl. Märchen Frau Holle und Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein).
Für Väter bedeutet die Tochter oft eine Belebung ihrer eigenen Gefühls- und Beziehungsfähigkeit. Andere Väter beachten ihre Töchter gar nicht.
Väter neigen dazu, die Tochter als ihr Eigentum zu betrachten (leiblich und geistig bis zum Inzest) und reagieren mit Eifersucht, wenn die Tochter sich einen anderen männlichen Partner wählt. Mütter und Väter neigen demnach dazu, die Tochter als Symbol der Stärkung und Verlängerung ihrer eigenen Lebenspotenz zu nutzen oder sie – als andere Seite der Medaille - zu vernichten.
Mythen und Märchen erzählen oft davon, wie der Vater die Tochter zur Erhaltung seiner Macht und seines Reichtums opfert. Bekanntes Beispiel dafür ist Iphigenie, die König Agamemnon für sein Kriegsglück opfert, aber auch zahlreiche Märchen, in denen der durch Armut, Niederlage oder einen Drachen bedrohte Vater ausgerechnet seine Tochter opfert (vgl. Märchen Das Mädchen ohne Hände, biblische Erzählung von Jephtas Tochter). Töchter fallen durch ihre Hingabefähigkeit bis zur Opferbereitschaft auf. Sie dienen geduldig und ertragen viel. In mehrfacher Hinsicht sind sie „Mädchen für alles“. Andere Märchen erzählen von inzestuösen Absichten der Väter, denen die Heldinnen sich nur schwer entziehen können (vgl. Märchen Allerleirau). Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang die christlichen Legenden von den heiligen Jungfrauen (Katharina, Margareta, Barbara und viele andere), in denen mächtige Väter ihre Töchter an andere heidnische Herrscher verheiraten wollen, die Töchter sich aber verweigern, weil sie ihren himmlischen Bräutigam Christus lieben und deshalb den Märtyrertod finden.
Die Tiefenpsychologie unterscheidet Vatertöchter von Muttertöchtern. Vatertöchter haben als Kind eine enge Beziehung zum Vater, identifizieren sich mit ihm, möchten selbst lieber ein Mann sein und entwickeln durch seine Förderung oft die Fähigkeit zu höchsten sportlichen oder intellektuellen Leistungen. Ihre Beziehungsfähigkeit bleibt oft unterentwickelt. Muttertöchter identifizieren sich mit der Mutter, ahmen sie nach und entfalten entsprechende weibliche Fähigkeiten.
Töchter sind eine ganz wesentliche lebende Ressource, die für jeden erdenklichen Zweck genutzt werden kann und wird, ob für religiöse oder politische, für soziale oder pädagogische, für wirtschaftliche oder individuelle.
Erstaunlich ist, dass diese Ressource immer wieder zur Verfügung steht und dennoch in ihrem eigenen, individuellen Wert kaum beachtet wird.
In Träumen von Frauen kann die eigene Tochter als wesentliche Bestätigung des eigenen Lebenssinns erscheinen, ihr Verlust als größte Bedrohung. In Analysen wird oft das Erleben von Frauen mit ihren Müttern thematisiert, das nicht selten von schmerzlichen Irritationen begleitet war und noch die erwachsene Frau am Leben hindert. Eine Versöhnung muss schwer erkämpft werden. Männer können auf ihre Töchter eine ideale Beziehung projizieren, reagieren aber mit größter Verlustangst, sobald die Tochter sich ihnen entzieht.
Literatur: Standard, Wöller, 1991
Autor: Wöller, Hildegunde